Performance als Rausch, montiert

EIN DIALOG

Von Nicole Haitzinger und Jack Hauser
 

Von: Jack Hauser
Gesendet: Montag, 1. Februar 2016 18:59
An: Haitzinger Nicole
Betreff: 1. Teil
 

liebe nicole,
 

auf der suche nach einem möglichen anfang unseres gemeinsamen nachdenkens zu THE GLORIOUS WEIRDNESS OF ART AND COSMIC: LIVE
 

finde ich diese stelle auf seite 39 in JULIA KRISTEVAs DIE REVOLUTION DER POETISCHEN SPRACHE / dt 1978)
 

…, was wir eine chora nennen: eine ausdruckslose Totalität, die durch die Triebe und deren Stasen in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird.
 

Den Terminus chora entlehenen wir Platons Timaios; er soll eine noch ganz provisorische, im wesentlichen mobile Artikulation kennzeichnen, die aus Bewegungen und deren flüchtigen Stasen besteht. Wir unterscheiden eine solche unbeständige und unbestimmte Artikulation von der Disposition, die bereits die Vorstellung (représentation) zur Voraussetzung hat und sich der phänomenologischen Raumintuition fügt, über die sie dann später in Geometrisierung mündet. Zwar folgt die theoretische Beschreibung der chora, wie wir sie hier versuchen, dem Diskurs der Repräsentation, um sie überhaupt intelligibel zu machen; doch an sich geht diechora als Einschnitt und als Artikulation – als Rhythmus – der Evidenz und Wahrscheinlichkeit, der Räumlichkeit und Zeitlichkeit voraus. Unser Diskurs – der Diskurs ganz allgemein – läuft ihr zuwider, das heißt, er beruht auf ihr, doch gleichzeitig setzt er sich von ihr ab, da die chora zwar bezeichnet und reguliert werden, aber nie endgültig hergestellt werden kann – so daß sie sich wohl ermitteln und gegebenenfalls mit Hilfe einer Topologie beschreiben läßt, sich aber der Axiomatisierung entzieht.
 

dein jack

 

Am 25.02.2016 um 10:48 schrieb Haitzinger Nicole:
 

Lieber Jack,
 

seit fast vier Wochen lässt meine Antwort auf sich warten. Das hat einen faktischen Grund, nämlich, dass ich immer wieder nach der Zeit suche, in der ich mich in Platons Timaios vertiefen kann. Und das versetzt mich in mehrerlei Hinsicht in Unruhe. Nicht nur, weil andere Verpflichtungen meine Zeit rauben –, es handelt sich um einen wilden und schönen Raub… Die Unruhe entsteht, weil wir noch immer und immer wieder glauben, es ist von Dringlichkeit für das Denken über chora und im weiteren Sinn vielleicht auch für den dritten Raum der performativen Kunst, Platon zu lesen. Und bitte verstehe mich nicht falsch: Ich habe eine intensive Platon-Lektüre für mein Buch Resonanzen des Tragischen betrieben. Die Bücher, die Du für Verwerfungslinien empfohlen hast – insbesondere Kristeva, Derrida, Rancière –, rezipieren ihn mittelbar oder unmittelbar. Ich möchte nicht das (aus Alfred North Whitehead in Process und Reality 1929) entlehnte und viel zitierte Argument, die philosophische Tradition Europas sei als eine „Reihe von Fußnoten zu Platon“ verstehen, überstrapazieren. Doch wir wissen, dass Platon sich für die Verbannung des Theaters aus seinem Idealstaat eingesetzt hat. Er erkennt im zehnten Buch der Politeia die Wirkungsmächtigkeit der Tragödie und deren Trugbilder. Von einem Traum für aus dem Schlaf erwachte Augen dann im Platon’schen Sophistes die Rede. Im Widerstreit mit der Philosophie erweist sich die Tragödie als gleichrangige Gegnerin. Dies gilt es meines Erachtens auszudifferenzieren im und für den dritten Raum der performativen Kunst. Und außerdem wage ich zu behaupten: Die Chora ist das Hymen Platons. Wäre es nicht Zeit für einen „la petite mort“?
 

Herzlich,
Deine Nicole

 

sms 25.02.2016 15:04
 

Liebe Nicole. Soeben deinen 1. Teil gelesen. Wir sind damit mitten drin. Der Künstler mit seiner Theorie-Antenne im Dialog mit der Wissenschaftlerin mit ihrer künstlerischen Erfahrung. Freue mich auf weiteres und auf morgen. In Dankbarkeit. Dein Jack

 

sms 25.02.2016 16:18
 

PS: Der Tänzer liest, was nie geschrieben wurde.
 

ODER: Was nie geschrieben wurde, lesen. So der Untertitel von DISPARATES, dem 1. Kapitel in ATLAS ODER DIE UNRUHIGE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT von Georges Didi-Huberman, dt. 2016)

 

sms 25.02.2016 17:10
 

Lieber Jack,
 

wie schön! Magst Du Deine Antwort an mich vielleicht im Dialog aufnehmen?
 

Herzlich! Nicole

 

Von: Jack Hauser
Gesendet: Donnerstag, 3. März 2016 17:33
An: Haitzinger Nicole
Betreff: 26. mai
 

liebe nicole,
 

ich danke dir für deinen mut. dein wissen. dein wesen. du unterstützt die arbeit so sehr.
 

dieser raum ist etwas für uns. um sich von etwas seltsamem berühren zu lassen. um eine gemeinschaft herankommen zu lassen. um etwas gemeinsam zu tun. etwas poetisches im werden zu begleiten und hervorzubringen.
 

dein jack

 

noch was nach dem 1. beispiel:
 

Later story of origin
 

According to a later Romance, Hymen was an Athenian youth of great beauty but low birth who fell in love with the daughter of one of the city's wealthiest men. Since he couldn't speak to her or court her, due to his social standing, he instead followed her wherever she went.
 

Hymen disguised himself as a woman in order to join one of these processions, a religious rite at Eleusis where only women went. The assemblage was captured by pirates, Hymen included. He encouraged the women and plotted strategy with them, and together they killed their captors. He then agreed with the women to go back to Athens and win their freedom, if he were allowed to marry one of them. He thus succeeded in both the mission and the marriage, and his marriage was so happy that Athenians instituted festivals in his honour and he came to be associated with marriage.
 

He was killed by Nicaea.
 

Hymenaios war in der griechischen Mythologie ein Gott der Hochzeit. Sein Name entstand als Personifikation des bei Eheschließungen im Rahmen des Epithalamiums traditionellen Lieds beziehungsweise Zurufs Hymen o Hymenai, Hymen.
 

Die Hymne und der bzw. das Hymen sind nach diesem Gott benannt.
 

(c) Sabina Holzer
Ein Foto von Sabina Holzer in der Wohnung Miryam van Doren. 02. 08. 2013. 20:01:22

Hochzeit (Druckersprache): Ein Satzfehler, bei dem zwei gleiche Wörter hintereinander erscheinen.
 

Übermäßige Empfindlichkeit
 

Clio war nämlich nicht mehr da, um Warburg die Klarheit des Berichts zu gewährleisten. In der zeitlichen Unordnung – Disparatheiten, Capricen und Desaster –, die ihn nunmehr umtrieb, war er eher das Spielzeug der Erinnyen als der Musen, eher das des Dionysos als das des Apoll, eher das des Pathos als das des Logos. All seine astra, seine gedanklichen Sternenkonstellationen, lösten sich unter den wimmelten Figuren seiner monstra auf, zerfielen, während sie sich offenbarten, in Stücke. Didi-Huberman, ATLAS, Seite 266)
 

ZUR HOCHZEIT
 

ein Zitat auf Seite 81 in Didi-Hubermans ATLAS: Wie Warburg in seinem Bilderatlas, und wie Benjamin, wenn er von der Kunst spricht, „was nie geschrieben wurde, [zu] lesen“, wird Deleuze schließlich vom Spiel mit dem Äon unter dem Blickwinkel eines Zusammentreffens heterogener Räume sprechen, zum Beispiel jener „beiden Tische [tables] oder Serien […] Himmel und Erde“, des Astralen und des Viszeralen, der astra und der monstra.

 

Von: Jack Hauser
Gesendet: Freitag, 6. Mai 2016 13:49
An: Haitzinger Nicole
Betreff: Dialog_Mai
 

liebe nicole,
 

hier endlich im anhang der 1. teil unserer serie: freue mich auf deine imaginationen
 

Alles liebe
dein jack

 

Von: Nicole.Haitzinger
Betreff: AW: Dialog_Mai
Datum: 11. Juli 2016 14:05:24 GMT+02:00
An: jack
 

Lieber Jack,
 

Meine Artikulation von Platons Hymen hat provoziert, nicht nur Dich, und brachte Ausdifferenzierungen im künstlerischen und theoretischen Sinne hervor. Zwischenzeitlich habe ich Dir einen von Bettina Kogler und mir verfertigten Hochzeitsrock als performatives Ausstellungsobjekt der Verwerfung(s-Linie) gegeben. Könnten Theater und Philosophie nicht gegenwärtig als Paar auf einem trunkenen Schiff ihre Hochzeit feiern im Hauser’schen Sinne von „PERFORMANCE IST RAUSCH, MONTIERT.“? Wer nimmt an dieser ozeanischen Reise teil, so dass es kein Geisterschiff gewesen sein wird?
 

Herzlich,
Nicole

 

Von: Jack Hauser
Gesendet: Montag, 11. Juli 2016 14:45
An: Haitzinger Nicole
Betreff: HOCH.ZEITROCKRAUM
 

LIEBE NICOLE,
 

MEINE AKKUMULATION VON NICOLE / BETTINA / MIRYAM / BRUCE / JUDEX / STELLA / IRMA VEP / DR. WHO / OLIVE

(c) Jack Hauser

OIL / MISS COOCHIE / BUTLER PARKER / BATMAN / DUCHAMP / PIPE & ROBIN / CIGARETTE / MAGRITTE / PINGUIN / YOU ONLY LIVE TWICE / FRANJU / ZINNOBER
 

DEIN POPEYE TOM

 

Von: jack
Betreff: HOCHSEEZEIT
Datum: 19. Juli 2016 18:51:28 GMT+02:00
An: nicole

Liebe Nicole,
 

ein trunkenes Schiff lässt gerade auch hier ihre Haut zu meiner werden. Ihr Schiffsein mein Menschsein drängen. Das ist eine Situation, die den Augenblick in Dauer verwandelt. Wo das Schiff nicht vom Ozean zu trennen sein wird. Wo das Lesen ein Schreiben wird. Ein Schreiben ohne Buchstaben. Ohne Zeichen. Ein Schreiben. Ein Leben. Die Photographie ist für mich immer so ein trunkenes Schiff gewesen. Die Photographie am Papier oder ungeordnet in der Photoschachtel. Die Photographie als Licht und Schatten auf einer Leinwand. Im Kino. Im Wohnzimmer. Als Film. Als Diaprojektion. Ihr Auftrag: Hinaus in die Weite, um diese Weite weiter zu erweitern. Die Vorstellung eines Kinos ohne projizierte Photographie entwickeln. Dann ein Blatt Papier ohne fixiertes Lichtbild doch eine Photographie. Noch immer eine Photographie. Und so weiter. Eine Photographie ohne Notation. Eine Choreographie von weit her. Etwas von weit her ganz nahe, so dass das Nahe mich hinaus stellt. Etwas Unheimliches.
 

Die Unkenntnis der Erkenntnis.

(c) Jack Hauser

Dein Shipwreck Jack aka Captain Carey aka „Bin ich ein Photo von Irma“.
 

PS: Eine Formulierung, die ich jetzt besser finde: Eine Choreographie ohne Notation. Eine Photographie von weit her.

 

Von: Nicole Haitzinger
Betreff: AW: HOCH.ZEITROCKRAUM
Datum: 19. Juli 2016 09:48:02 GMT+02:00
An: jack
 

Lieber Jack,
 

ein paar Signale aus meinem singulären trunkenen Schiff über Anderes und doch Verwandtes: Meine Großmutter erzählt mir von ihrer Mutter, deren Ähnlichkeit mit mir ihr jetzt, 78-jährig, sehr auffällt. Sich an sie erinnernd, an ihre jung gestorbene Mutter, die während der NS-Zeit Menschen jüdischer Herkunft in der Au versteckte, die nachts zu ihrem Haus kamen. An ihre Schwester Dori, die ein Parteibegräbnis „Faschingsumzug“ bezeichnete und wegen dieser Provokation ins KZ Dachau kam. Zugleich waren die Brüder dieser widerständigen Schwestern dem Nationalsozialismus verpflichtet, ein Riss ging durch die Familie, eine Wunde, die nie mehr geheilt ist. Nach langen Arbeitstagen hörte meine Urgroßmutter Hörspiele im Radio, die sie sehr liebte. Auf die Frage meines von ihr nicht sehr geliebten Urgroßvaters, wann sie denn endlich ins Bett ginge, antwortete sie: Später, jetzt möchte ich endlich einmal ein Mensch sein.
 

All dies und mehr erfahre ich jetzt, als (m)eine Geschichte, in einer europäischen Gegenwart, die Terror unmittelbar erfährt. Gleichzeitig beschäftige ich mich mit Heidegger im Kontext meiner Forschung über Bühnentode in der Moderne. Das Faszinosum und Tremendum von Sein und Zeit (1927), in dem radikal die Unbestimmtheit des eigenen Seins aufgezeigt wird – „das Sein zum Tode“, das in jedem Moment des Lebens besteht und Philosophie mehr ist als ihre eigene Geschichte, diese Gedankenfiguren beeinflussen, provozieren, fordern nicht nur Sartre, Arendt, Levinas, Merleau-Ponty, Foucault, Derrida in ihrem Denken heraus. Karl Jaspers notiert 1930/31: „Heidegger [&ellip;] [&ellip;] Kommunikationslos – weltlos – gottlos“. Heideggers fehlende kompromisslose und vor allem öffentlich bekundete Distanzierung vom Faschismus ist ein Faktum geblieben. Günter Figal schreibt: „Erst mit Heidegger versteht man, was man anders als er denken will.“
 

Herzlich,
Nicole

 

Von: jack
Betreff: THE GLORIOUS WEIRDNESS OF ART & COSMIC: LIVE
Datum: 23. Juli 2016 15:51:03 GMT+02:00
An: m.steinweg, cattravels, imflieger
Kopie: anita.kaya, anton.tichawa, ender, alfie, brigitte wilfing, sanchez-chiong, alfred lenz, t. wagensommerer, teminusr, philosophyunbound, dja, kkruschkova, Nicole Haitzinger, ploebst
 

LIEBER MARCUS,

(c) Felix Kaya
(c) Felix Kaya

WIR KOMMEN WIEDER.

 

Anfang der weitergeleiteten E-Mail:
Von: "Marcus Steinweg"
Datum: 23. Juli 2016 11:24:55 GMT+02:00
An: "Jack Hauser", "Sabina Holzer"
Betreff: Aw: Re: Re: Fwd: PROGRAMMHEFT_11 Fotos für COSMIC_3.Beispiel
 

lieber jack, liebe sabina,
 

war SEHR SCHÖN mit EUCH!
LUSTIG & VERRÜCKT!
ich hab viel gelernt!
 

bis bald,
marcus

 

Von: Jack Hauser
Gesendet: Dienstag, 26. Juli 2016 19:42
An: Marcus Steinweg
Cc: Krassimira Kruschkova; Nicole Haitzinger; Gabrielle Cram; cattravelsnotalone holzer; Martina Ruhsam; brigitte wilfing
Betreff: RUCKEDIGUH BLUT IST
 

IM SCHUH
 

"Eigentlich kann man nur noch in Zitaten miteinander reden. Das hat mit Freud's These zu tun, daß gesprochene Texte im Traum immer erinnerte oder zitierte Texte sind. Es gibt keine originären Texte in Träumen. Wir sind in einer solchen Traumphase. Das ist wie Stillstand von Dialektik. Eine angehaltene Zeit. Da staut sich alles was war."
 

Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz, Lettre International, Heft 24, 1994.
 

Wörtliche Rede hat Heiner Müller in seinem Traumtext vermieden, niemand „sagt“ etwas. (klaus theweleit / heiner müller traumtext / 1996)

(c) Jack Hauser

liebe nicole,
 

das boot wird bald den hafen verlassen. hier eine heitere stimmung zum auslaufen ins offene meer. zugaben?
 

alles liebe
dein jack
 

ps: und die fusssohlen als dritter raum

 

Lieber Jack,
 

ein Tanz am Floß (1853). An Dich, an mich?

(c) Derra de Moroda Dance Archives
Derra de Moroda Dance Archives, DdM ic A 061

„Dedicated to the old comrades of the future” schreibt Edward Gordon Craig als Widmung in The Art of Theatre. Das utopische Denken hat darüber nachgedacht, wie das Gegenwärtige anders sein könnte. Ich möchte mit der von Dir entlehnten Perspektive „der montierte Rausch“ über historische und gegenwärtige Utopien der Künste sprechen, über Entworfenes, über Unrealisiertes, und diese ausdifferenzieren. Der Rausch scheitert zwangsläufig an einer sinnhaften Übersetzung, zugleich verkünden seine Artikulationen (sprachlich, körperlich) etwas über das Verhältnis von ‚Selbst‘- und Gesellschaftskonzepten, über die diskursiven Grenzen der Ratio, über Funktionen und Erscheinungsformen von Genuss versus Sucht – und deren enge Verflechtung über Kategorien der Ekstase und Obsession – wie ihre jeweiligen politischen wie ästhetischen Implikationen.
 

Der montierte Rausch als erkenntnisgenerierendes Paradoxon.
 
 

(Erstveröffentlichung in A BOOK IS HERE (Injection), Wien 2016)