Zeitenwende

Editorial: Performative Künste und Zeitenwende

Von Nicole Haitzinger, Julia Ostwald

Spätestens seit 2007 hat der Begriff der Krise globale und kumulative Bedeutung erlangt: zunächst mit der Finanzkrise, der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015, der Klima-, und schließlich seit 2020 der pandemischen Coronakrise wurde der Begriff Krise paradigmatisch zur Beschreibung der Gegenwart. In seiner Herkunftsgeschichte bedeutet das griechische Wort crisis, ‚Urteil‘ oder ‚Entscheidung.‘

 

„Abgeleitet aus ‚krino‘, scheiden, auswählen, entscheiden, beurteilen: medial sich messen, streiten, kämpfen, zielte ‚Krisis‘ auf eine endgültige, unwiderrufliche Entscheidung. Der Begriff implizierte zugespitzte Alternativen, die keine Revision mehr zuließen: Erfolg oder Scheitern, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, schließlich Heil oder Verdammnis.“[1]

 

Reinhart Koselleck deutet den Begriff in vier Kontexten des antiken Denkens aus: Kampf der Mächte (Perserkriege), in der Medizin (hippokratische Schule), in der Politik (Rechtswahrung) und in der Theologie (Gericht Gottes). Das antike Theater als Kriseninstitution par excellence wird hier bemerkenswerterweise nicht genannt. Doch gerade auf der Bühne werden Krisensituationen als wiederkehrende Konstante der (vermenschlichten) Existenz in potenzierter Weise inszenatorisch ausgelotet und ästhetisiert, die Tragödien des Sophokles und des Euripides sind am Kreuzungspunkt von Machtstreit, Verwundung, Gesetz und Glauben angelegt.

 

Ohne Krise, kein Theater?

Die Krise ist im griechischen Denken körpergebunden, sei es in der Schlacht, sei es in der Krankheit, sei es im Vollzug der Rechtsprechung, sei es im jüngsten Gericht: Verwundung und Tod sind mögliche und drohende Konsequenzen, wenn die Alternativen fehlschlagen. Nicht zufällig wird in der Begriffsgeschichte die Corpus-Metaphorik aus dem medizinischen Diskurs auf Staaten übertragen, bis sich der Begriff schließlich so verselbstständigt, dass der Bezug zur Krankheit mit Beginn des 18. Jahrhunderts nur mehr als Metapher apostrophiert wird. Entgegen einer gegenwärtigen Tendenz des inflationären Wortgebrauchs und angesichts der vielfach wahrgenommenen Krise Europas akzentuiert die Philosophie, unter anderen Giorgio Agamben, die eigentliche körperbezogene Wortbedeutung und die damit verbundene gebotene Entscheidung über existentielle Fragen.[2] Die Krise wird laut Agamben paradoxerweise in ihren eigenen Dienst, in den Dienst der Krise gestellt, ohne dass Entscheidungen für das verwundete und vom Sterben bedrohte Europa getroffen werden. Die Krise trifft das als Körper im zweifachen Sinn ausbuchstabierte Europa. Es ist die namensgebende mythologische Figur des Kontinents und die Landschaft, der ein ‚anderes Kap‘[3] gewordene Körper der Europa aus dem Mythos, von Zeus in Gestalt eines Stiers gewaltsam aus Phönizien entführt, die beide von der gegenwärtigen Philosophie und dem Theater erinnert werden.[4] Derrida verweist in seinem epochalen Kurztext Das andere Kap, imprägniert von den politischen Umstürzen des Jahres 1989, darauf, dass das Bewusstwerden und die Besinnung auf die kulturelle Identität Europas als ein im mehrfachen Sinne kapitaler Diskurs zu begreifen ist, untrennbar verflochten mit Krise und einer „in Schwebe gehaltenen Entscheidung“.[5]

 

Gewendete Zeiten

Die Symptome der Krise haben einen hohen Grad der Intensität erreicht, und zwar so hoch, dass sie als irreversibel interpretiert werden: Darauf baut die rechtsnationale politische Allianz ihren moribunden Anti-Europa Diskurs auf. Doch was lehrt uns die Geschichte? Woran erinnern Philosophie, politische Theorie und eben auch das Theater mit Vehemenz? Zweifelsohne ist Europa in einer Krise: Doch das heißt im eigentlichen Sinne, dass erstens in dieser kritischen Situation alles in Schwebe, alles möglich ist[6] und dass zweitens, und hier setzt unser Projekt an, Entscheidungen geboten sind.

 

Im Kontext des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine und damit verbundenen weltweiten Erschütterungen ist wiederholt von einer ‚Zeitenwende‘ die Rede, die eine Verschiebung in der Metapher der Krise andeutet. Im Gegensatz zur Krise deutet das Wenden der Zeit im etymologischen Sinn von „(sich) umdrehen, umkehren, verändern“, von „winden“ und „drehen machen“[7] auf einen Moment in der Geschichte, in dem Vorstellungen einer teleologisch fortschreitenden Zeit jäh ausgesetzt werden. Vielmehr werden mit dem Taumeln der Zeit widerstreitende Bewegungsrichtungen impliziert, die etwa einen temporär orientierungslosen Raum zwischen den Zeiten oder die kollektive Erfahrung einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten, einer Wiederkehr der Geschichte erzeugen. Im Zuge der ‚Wende‘ von 1989 und dem Ende des Kalten Krieges gebraucht Derrida in Marx’ Gespenster Hamlets Worte, „the time is out of joint“, um auf die grundsätzliche Ungleichzeitigkeit von Gegenwart zu verweisen, die in Momenten, in denen die Zeit – und damit die Welt – aus den Fugen gerät, in besonderer Weise wahrnehmbar wird. Derrida charakterisiert die aus ihrem Lauf geworfene Zeit als eine Heimsuchung durch Geister der Vergangenheit, der Zukunft und der Gegenwart,[8] die ob ihrer pluralen Richtungen Orientierungslosigkeit stiften und doch, wie auch für Hamlet, Entscheidungen und Veränderung in naher Zukunft implizieren:

„Flugbahn ohne Kap und ohne Versicherung, notwendigerweise. Flugbahn einer Überstürzung, in deren Richtung die Frage, die sich uns hier unter dem Namen oder im Namen der Gerechtigkeit stellt, zittert, vibriert, auf die hin sie sich gleichzeitig orientiert und desorientiert.“[9]

Hier deutet sich ein Paradigmenwechsel an vom omnipräsenten Diskurs der Krise der jüngsten Vergangenheit zu dem der Zeitenwende: Die sich unentschieden in der Schwebe haltende abstrakte Rede von der Krise, die die multiplen Spaltungen Europas metaphorisch adressiert, forciert angesichts der täglich wachsenden, konkreten Trümmer des Krieges Entscheidungen im Sinne einer Wende. Die Wende als ein Ende der Krise als Metapher impliziert Bewegung und rückt nicht zuletzt den (bedrohten) sich wendenden, sich zu- oder abwendenden Körper zurück ins Zentrum.

 

Gegenwärtige Schauplätze: Bühnen und Trümmer

Regionen der heutigen Ukraine – insbesondere Galizien – sind historisch aufs Engste mit der Habsburger Monarchie verknüpft.[10] Neben wechselhaften politischen Verflechtungen verbindet beide nicht zuletzt ein intensiver künstlerischer Austausch, der spätestens mit der Errichtung des Eisernen Vorhangs ein Ende fand. Vor dem Hintergrund dieser historischen Bezüge und der gegenwärtigen Zeitenwende, die die Ukraine ins Zentrum des Weltgeschehens rückt, scheint Wien eine spezifische ethische Verantwortung zuzukommen. Nach den performativen Künsten in Europa in ‚Zeiten des Wendens‘ zu fragen, verstehen wir als eine Form von Solidarität, die auf der gemeinsamen und dennoch differenzreichen Geschichte beruht. Deshalb war es für uns ganz entscheidend, mit der ukrainischen Theatermacherin und jungen Wissenschaftlerin Ielizaveta Oliinyk als ‚writer in residence‘ zusammenzuarbeiten, die von Juni 2022 bis Januar 2023 in dokumentarischer Geste Texte und Bilder für uns zusammengestellt hat. Die von ihr zusammen getragenen Fragmente überblenden persönliche Beobachtungen und Erfahrungen im Kleinen mit größeren Initiativen in Kunst und Zivilgesellschaft.

Wir wollten gleichzeitig Stimmen aus Russland hörbar machen, wie die von Oleg Soulimenko, der dem Corpus-Kollektiv seit Jahren vertraut und wichtig ist, oder die von Anastassia Patlay, im Exil lebende Autorin und Regisseurin des Moskauer Teatr.doc. Allen den hier veröffentlichten Texten unterliegt die geteilte Erfahrung einer wechselhaften, instabilen jüngeren Geschichte (Ukraine- und Balkankrieg) und historisch fluktuierenden Grenzpolitiken in Europa.

 

Zunächst scheinbar zufällig und doch bezeichnend für das Projekt war die Tatsache, dass selbst der anfängliche Schritt der Kontaktaufnahme mit potentiellen Autor*innen und die Kommunikation per Email ihre Selbstverständlichkeit verloren. Blockierte und verloren gegangene Nachrichten, die ihre Adressat*innen nie oder spät erreichten, schienen selbst im digitalen Raum die Gräben der Zeit und neu gezogene Grenzverläufe wahrnehmbar zu machen und zugleich die Notwendigkeit zu betonen, dennoch Wege des Austauschs zu finden. Das Schreiben in buchstäblich kriegerischen Zeiten – sei es tatsächlich nahe der Front (Ielizaveta Oliinyk, Vasyl Cherepanyn), sei es im Exil (Anastasia Patlay, Oleg Soulimenko), sei es in der (nicht allzu weiten) Ferne und mit den geopolitischen Auswirkungen im Kleinen oder im Großen konfrontiert (Petja Mladenova, Helmut Ploebst) oder mahnend an die geraubte Zukunft im Kontext der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er Jahren erinnernd (Dada Vujasinovic) – bringt im intellektuellen (Kunst-)Diskurs weniger vertraut gewordene Textsorten hervor: Zorn, Wut, Trauer, Fassungslosigkeit, Ohnmacht prägen teils die performativen Akte des Schreibens unserer Autor*innen; Autor*innen aus unterschiedlichen Kontexten und Kulturen, die sich hier in einer Zeit treffen, in der Europa wieder zum Kriegsschauplatz geworden ist.

 

 

Wien, Februar 2023

 

Nicole Haitzinger und Julia Ostwald

 

 

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

 

 

 

Fußnoten:

  1. ^ Koselleck, Reinhart: „Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ‚Krise‘“, in: Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zu Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt am Main 2006. S. 203–217, hier: 203–204.
  2. ^ Vgl. Agamben, Giorgio: „Europa muss kollabieren.” Online unter: https://www.zeit.de/2015/35/giorgio-agamben-philosoph-europa-oekonomie-kapitalismus-ausstieg [zuletzt aufgerufen am 06.12.2022]. 
  3. ^ Vgl. Derrida, Jacques: „Das andere Kap (1991).” In: Delschen, Karl Heinrich; Gieraths, Jochem: Europa – Krise und Selbstverständigung. Berlin 2009. S. 225–252. Derrida legt die die Bedeutungen von Kap mit vielerlei Implikationen frei: Kap als Titel, als Kopf/Haupt, als Ziel, Spitze, Zipfel, in Bezug zur Luft- und Seeschifffahrt (Kapitän, Kurs nehmen, ansteuern), siehe S. 229.
  4. ^ Vgl. Haitzinger, Nicole; Lange, Stella (Hg.): Europe’s Staging – Staging Europe. Themenheft. In: Forum Modernes Theater 31(2). Tübingen 2020.
  5. ^ Derrida, „Das andere Kap”, S. 235. 
  6. ^ [6] „Wahr ist jedenfalls, dass die Frage völlig offen ist, wie sich dieses mixtum compositum aus nationalen Singularitäten und supranationaler Einheit, wie Europa dies weiterhin darstellt, als solchen weiterentwickeln wird.” Balibar, Étienne: Europa. Krise und Ende? Münster 2016, S. 229. 
  7. ^ Pfeifer, Wolfgang (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 1999, S. 1555–1556. 
  8. ^ Derrida, Jacques: Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995, S. 12-13. „Gerecht sein: jenseits der lebendigen Gegenwart im allgemeinen - und jenseits ihrer einfachen, negativen Kehrseite. Gespenstischer Augenblick, ein Augenblick, der nicht mehr der Zeit angehört, wenn man darunter die Verkettung modalisierter Gegenwarten versteht (vergangene Gegenwart, aktuelle Gegenwart:‚jetzt‘, zukünftige Gegenwart).“ 
  9. ^ Derrida, Marx‘ Gespenster, S. 46. 
  10. ^ Siehe u.a. Haid, Elisabeth; Weismann, Stephanie; Wöller, Burkhard (Hg.): Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie?, Marburg 2013.