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Antworten 36–42

WAS IST CHOREOGRAPHIE #6

 

Jan Ritsema

über choreographie

wir wollen es uns nicht schwer machen
das grundsätzliche scheint zu sein:
choreograpie ist denken über die organisation von objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne

aber das gilt in gewisser weise auch für theater, musik, bildende kunst und kino
und nicht nur dafür
das also geschieht auf der straße, die gemeinschaft organisiert bewegung in gemeinsamer zeit und gemeinsamem raum

wäre es besser zu sagen:
denken über die organisation der bewegung zwischen objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne

aber das gilt immer noch ebenso für die oben genannten künste

dann:
denken über die organisation der beziehungen von bewegung zwischen objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne

das klingt nicht schlecht
aber ich schließe performances aus wie Xavier Le Roys „Product of Circumstances“ oder Jerôme Bels „Jerôme Bel“
sie organisieren nicht nur beziehungen von bewegung zwischen objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne
sie verrücken sie auch, sie packen bewegung aus
also könnte die definition sein: denken über die organisation und/oder verschiebung der beziehungen von bewegung zwischen objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne

zeitgenössische tanzperformances sind oft zirkulär organisiert, im unterschied zu einer klassischer organisierten präsentation, die aufgrund ihrer erzählstruktur oft linearer ist

verbessern wir die definition so: denken über die zirkuläre oder lineare organisation und/oder verschiebung der beziehungen von bewegung zwischen objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne

mir geht aber immer noch ein wichtiger bestandteil ab: der zuschauer
da es heutzutage viele performances gibt, die nicht nur mit den bewegungsbeziehungen umgehen, die im begrenzten raum und der begrenzten zeit der bühne organisiert sind
sondern die auch die greifbaren und ungreifbaren bewegungsbeziehungen zwischen der performance und/oder den performern und dem auditorium oder den zusehern behandeln
ich beziehe mich auf Jerôme Bels „Le dernier spectacle“, worin der hauptsächliche bewegungsimpuls im geist des zuschauers geschieht

also sollte die definition sein: denken über die zirkuläre oder lineare organisation und/oder erklärung der bewegungsbeziehungen zwischen objekten und subjekten in zeit und raum auf der bühne und/oder der greifbaren oder ungreifbaren bewegungsbeziehungen zwischen der performance und/oder den performern und dem auditorium oder den zusehern

aber all das deckt den begriff immer noch nicht ab, noch die art, wie choreographie praktiziert wurde
da ein choreograph im prinzip nicht zeit und raum des geschehens auf der bühne organisiert, sondern mehr das, was im geist der betrachter, der zuseher geschieht
das ist es, wo choreographie statt findet, geschieht
aber das ist keine spezifische eigenschaft der choreographie
schließlich versuchen alle künste, den geist der zuschauer anzustoßen
aber nicht alle stoßen bewegungsbeziehungen im geist des zuschauers an

und dann noch dieses „denken“ in der definition
dieses „denken“ ist die wichtigste aufgabe eines choreographen
sie/er denkt über bewegung nach
über die vielen arten, wie sich bewegung manifestiert
und sie/er denkt darüber nach, was die bewegungsaspekte, die sie/er benützt, im zuschauer auslösen

choreographie ist: ein vergnügen

 

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Julia Wehren

Choreographie bedeutet heute ein Regelwerk, das Körperbewegung in Zeit und Raum organisiert. Entweder im Voraus - als Vorschrift - oder im Moment der Hervorbringung selbst, und zwar aufgrund von Entscheidungen. Das Regelwerk und dadurch die Organisation von Körperbewegung, Zeit und Raum können sich dabei stets verändern. In jedem Moment entsteht aber ein bestimmtes Setting, organisiert durch die Choreographie.

 

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Superamas

Ich las einen Roman von Dashiell Hammett, „The Gutting of Couffignal“.

(…)
„Halt!" befahI ich.
„Sicher nicht", sagte sie, aber sie tat's, wenigstens für den Augenblick. „Ich gehe raus."
„Du gehst hinaus, wenn ich dich mitnehme."

Ich dachte: Choreographie ist die Kunst, Befehle zu geben.

Sie lachte, ein angenehmes Lachen, tief und zuversichtlich.
„Ich werde schon vorher rausgehen", sagte sie mit freundlicher Bestimmtheit. Ich schüttelte den Kopf.
„Wie hast du vor, mich aufzuhalten?" fragte sie.
„Ich glaube nicht, dass ich das muss", sagte ich. „Du bist zu klug, um davonzulaufen, während ich meine Knarre auf dich richte."

Choreographie ist die Kunst, gehorchen zu lassen: kein Drama, keine psychologischen Sachen, nur Gestalten und Bewegungen. Wie für eine Militärparade. Du entscheidest, und sie marschieren los.

Sie lachte wieder, ein amüsiertes Perlen.
„Ich bin zu klug, um zu bleiben", berichtigte sie mich. „Deine Krücke ist kaputt, und du bist lahm. Also kriegst du mich nicht, wenn du mir nachläufst. Du gibst vor, dass du auf mich schießen wirst, aber ich glaube dir nicht. Du würdest natürlich auf mich schießen, wenn ich dich angreife, aber das werde ich nicht tun. Ich werde einfach rausgehen, und du weißt, dass du deswegen nicht auf mich schießen wirst. Du wirst zwar wünschen, es zu können, wirst es aber nicht tun. Du wirst schon sehen."
Ihr Gesicht über die Schulter mir zugewandt, die dunklen Augen blitzend, machte sie einen Schritt auf die Tür zu.
„Rechne besser nicht damit!" drohte ich.

Der Punkt ist: Wie soll man die Realität erfassen, die unserem Willen und unserem Verständnis immer entwischt? Warum lieber dies als das? Ist Choreographie ein Mittel zu größerer Objektivität? Die Dinge tragen immer einen Anteil des „Unbestimmbaren“, des „nicht Entscheidbaren“ in sich.

Als Antwort darauf schenkte sie mir ein gurrendes Lachen. Und machte einen weiteren Schritt.
„Halt, du Närrin!" schrie ich sie an.
Ihr Gesicht lachte mich über ihre Schulter hinweg aus. Sie ging ohne Eile zur Tür; ihr kurzer grauer Flanellrock formte sich nach der Wade jedes grauen wollbestrumpften Beins, wenn sein Zwilling voranschritt.

Choreographie ist eine Projektion. Sie beruht auf dem Blick des Betrachters.
Es ist der Zuschauer, der entscheidet, ob das, was er sieht, nicht nur das ist, was er sieht, sondern auch ein Kunstwerk mit choreographischen Qualitäten.

Schweiß machte die Pistole in meiner Hand schlüpfrig.
Als ihr rechter Fuß die Türschwelle berührte, entschlüpfte ihrem Hals ein kleines Glucksen.
„Adieu!" sagte sie sanft.
Und ich schoss eine Kugel in ihre linke Wade.

Da haben wir's! Man kann leicht einen Teil der Wirklichkeit nehmen und umwidmen, und wenn man das in einem bestimmten Zusammenhang tut, kann man eine Choreographie erschaffen.

Sie setzte sich - plumps! Totale Überraschung spannte ihr weißes Gesicht. Es war noch zu früh für den Schmerz.
Ich hatte noch nie auf eine Frau geschossen. Fühlte sich seltsam an.
„Du hättest wissen müssen, dass ich es tue!" Meine Stimme klang rauh und wild wie die eines Fremden in meinen Ohren.
„Habe ich nicht auch einem Krüppel die Krücke gestohlen?"

Das tut auch Superamas: Choreographie ist ein dreckiges Geschäft.

 

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deufert+plischke

In der Antwort auf die Frage „Was ist Choreografie?“ möchten wir bewusst auf gängige „Sprachhülsen“ verzichten, die den Begriff oft umschwirren wie Motten das Licht. Es sollte eigentlich mindestens so viele Antworten geben, wie es KünstlerInnen gab, gibt und geben wird, die das Medium der Choreografie benutzen, formulieren, erfinden, verändern etc. Was wir dennoch unterscheiden möchten, ist das Kunsthandwerk von der Kunst. Sie haben nichts gemeinsam, doch werden sie im Falle der Choreografie oft in einen Topf geworfen und das eine ständig im anderen vermisst. Keiner merkt, dass beide ein unterschiedliches Risiko beherbergen und sie deswegen nicht zu vergleichen sind.

Im Kunsthandwerk produziert die technische Raffinesse das Risiko der Meisterschaft und somit die Gefahr des Scheiterns.

In der Kunst wird die Kunst selbst zum Risiko, und streng genommen gibt es kein Scheitern, höchstens ein Aufgeben. Und wenn Choreografie eine Kunst der Ordnung, der Abfolge und einer Gemeinschaft (der Fremden) ist, so ist es eine Ordnung, die diese auch ständig wieder riskiert.

 

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Christine Gaigg

Ich unterscheide zwischen Choreografie und choreografischem Handwerk. Das Handwerk unterliegt Moden und Stilen. „Choreografie“ hingegen ist ein so weitgreifendes Vokabel wie „Geste“. Als solches hält dieser Begriff vieles, wenn nicht alles, zusammen und kann alles Mögliche vertreten, wie z.B. Komposition, Orchestrierung, Timing, Partitur, Strukturierung. Choreografieren als Tätigkeit meint, Orientierungen innerhalb eines Samples von Gegebenheiten zu finden. Das können, aber müssen nicht tänzerische Bewegungen sein. Im Gegenteil, der Bezug zur tänzerischen Bewegung ist nur ein winziger Spezialfall im Denkraum des Choreografierens.

 

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Rudi Laermans

Zwei Arten von Choreographie? - Heutzutage gibt es wenigstens zwei Arten von Choreographie… Einerseits gibt es die Choreographie als Herstellen von Repräsentationsmaschinen mit Hilfe von sich bewegenden Körpern, die immer auch bedeutungsvolle Repräsentationen von Körpern sind. Repräsentationsmaschinen reduzieren den tanzenden Körper auf eine tautologische Repräsentation seiner selbst (,Ich tanze, dass ich tanze‘) und sprechen den Beobachter hauptsächlich als passiven Betrachter mit einem mentalen Auge an. Andererseits gibt es die Choreographie als multimediale Affektmaschine, die aus verschiedenen Arten von Bewegung besteht. Körperbewegungen werden auf die gleiche transversale Ebene gestellt wie sich bewegende Bilder und sich verändernde Klänge, bewegliche Objekte und wechselnde Lichtstrahlen… Der Beobachter wird daher nicht mehr länger als körperloser Betrachter angesprochen, sondern als materieller Rezipient. Innerhalb dieses neuen Paradigmas bleibt Tanz ,die Kunst des (sich bewegenden) Körpers‘, jedoch wird der Körper re-artikuliert als die Fähigkeit, von prä-personalen Affekten bewegt zu werden.

Die Konstruktion von Affektmaschinen ist synonym mit der Erstellung eines sozialen wie auch künsterlischen ,Gemeinsamen‘. Dieses Gemeinsame wird bevölkert von Körperbewegungen, Klängen, Videobildern… und natürlich auch von Affekten. Sie alle operieren als vernetzte ,Aktanten‘ Dank der immer singulären aktiven Vernetzung, welche ihnen diese und nicht jene Rolle, Funktion, Effektivität… verleiht. Daher können wir eine Affektmaschine als eine nichthierarchische performative Zusammenstellung beschreiben, eine wechselnde Verbindung von Körperteilen, Lichtstrahlen, Klängen, Bewegungen und Nichtbewegungen, Bildern…, die einander und ,das körperliche Publikum‘ ständig beeinflussen, was in einem ständig transformierten Fokus der Affektivität resultiert.

 

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Claudia Bosse

choreografie ist raumschrift. körper skandieren zeit, rhythmus, energie im raum. choreografie ist die gesetzte kollision von ablagerungen im kulturellen und biografischen gedächtnis mit ästhetischem zeitgemässen prozessieren in/mit zeit, raum, körper. choreografie produziert situative zeitliche fügungen von körpern und augen, köpfen und körpern.

 

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