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A±C: Einleitung

Antony Gormleys plastische Korpografie in Relation zu Wolfgang Meisenheimers Raumchoreografie

Von Nicole Haitzinger


Die folgende Begriffswolke auf der hinteren Umschlagseite des Sammelbandes „Sturm der Ruhe. What is architecture“, herausgegeben vom Architekturzentrum Wien (AZW) im Jahr 2001, erlaubt - gerade wegen ihrer intentionalen Zufälligkeit – einen kleinen Einblick in den Architekturdiskurs der jüngeren Gegenwart[i]:

Raum der Sprache /
Bildergehäuse / Eindruck / Gefühl /
Physische Präsenz / Euphorie / Kulturelle Werte /
Soziale Beziehungen / Normative Konventionen / Stimmungsbilder /
Erinnerungen / Raum- und Zeitform des Empfindens / Erfahrung von Ferne und Nähe / Moment des Begehrens / Abwesenheit / Subjektive Tatsachen / Umgebungsqualität / Liebliche Anwesenheit / Leichtigkeit / Schwere / Inszenierung von Alltagsleben / Bühneneffekt / Ephemerer Charakter eines Ortes / Situationen / Zeitgeist / Verkörperte Objektivität / Situiertes Wissen / Lebensweisen / Visualisierungspraktiken / Vermischung von Stimme und Sicht / Sensibilität / Wissenschaft / Technologie / Blickwinkel / Kontext / Direkte Erfahrung / Aufmerksamkeit / Zerstreuung / Rezeptionsmodelle / Taktiken / Erzählung / Institutionelles Programm / Transparenz / Wiederholung / Gegen-Erinnerung / Kritische Strategien / Ideologie / Ideen / Form / Details / Reale Welt / Poetische Qualität des Materials / Entwurf / Idealisierte Sichtweise / Sprache der Umgebung / Soziales Aufgabenfeld / Kulturelle Subtexte / Kodierung / Handlung / Funktionale Bedingungen / Politik des Geschmacks / Massenvermarktung / Perfektion / Hochkultur / Nahtlosigkeit / Reinheit / Bedingungen des Baues / Recherche / Architektonische Gesetze / Technologische Regeln / Lebenszusammenhang / Wirklichkeit / Fiktionen / Unmittelbarkeit / Erscheinen / Subjektivismus / Intention-Ausdruck / Modell eines Bewusstseins / Logik des Deduktiven / Struktur / Erfahrene Form / Gestalt-Bildung / Architektonische Bedeutung / Vorsemiotische Erfahrung / Korrosion der Zeichen / Wahrnehmung der körperlichen Wirklichkeit / Nachdenken über das Sehen / Bildung der fünf Sinne / Umgang mit den Dingen / Sinnliches / Sichtbares / Berührbares / Sehen / Bewusstsein / Organ der Erfahrung / Band zwischen Fleisch und Idee / Intermodale Qualitäten / Leiberfahrungen / Intuition / Reflexion / Befindlichkeit / Emotionaler Handlungsraum / Instrument der Wahrnehmung / Milieu unserer Verkörperung / Gebäude-Körper-Ideologie / Haut / Unsichtbarkeit /
Materielle Körperpraktiken / Orte des Anderswo /
Praktischer Umgang mit einem Ort / Besetzung des Raumes durch den Text /
Konsumenten von Raum / Materielle Realitäten /
Immaterielle Vorgänge

Die Begriffe und Assoziationen kommunizieren mittelbar mit dem corpus-Thema #7 „Was ist Choreographie?“. Es zeigt sich, dass das oft implizit dem Tanz und der Performance zugeschriebene Ephemere und das der Architektur zugeordnete Fixierende in der aktuellen Theorie und Praxis seine unhinterfragte definitorische Bedeutung zu verlieren scheint. Die Denkfigur Choreographie wird nicht erst im zeitgenössischen Diskurs vielfach über das organisierte Zusammenspiel von (Zeit-)Körper und (Zeit-)Raum konturiert. In einer Geste der Umkehrung könnte William Forsythes Definition „choreography is the organisation of things in time“ auch für Architektur gedacht werden.[ii]

Für unser kleines Architekturthema luden wir den Architekten Wolfgang Meisenheimer und die Tanzwissenschaftlerin Isa Wortelkamp ein, aus ihrer Sicht über das jeweils „andere“ Gebiet zu schreiben. In ihrer Zusammenschau erlauben die Texte eine dialogisch-offene Lektüre. Sie verweigern sich beide in ihrer phänomenologischen Spurensuche der Bildung von Theorie-Gebäuden. Die Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Elke Krasny bespricht Wolfgang Meisenheimers Buch „Choreografie des architektonischen Raumes“, das als wesentlicher Impuls für unser Thema galt.

Eine besondere Herausforderung stellte der Wunsch des Architekten nach einer Bildstrecke aus Tanzfotografien dar, die folgende Topoi seines aktuellen Artikels spiegeln sollten:

a) einen Ort einnehmen,
b) Vertikale errichten,
c) innen und außen voneinander trennen,
d) Spannung erzeugen: Enge und Weite.

Jede Auswahl von Tanzfotos erschien uns dann doch zu illustrativ. Deshalb entschieden wir uns dafür, in einer Bild-Textstrecke die Arbeiten „Critical Mass“, „Bodies in Space“ und „Quantum Cloud“ des britischen Künstlers Antony Gormley mit Meisenheimers Text kommunizieren zu lassen.[iii] Gormleys „Korpographie“ nimmt eine außergewöhnliche Position (im mehrfachen Sinn) zwischen Performance und Architektur ein.


Moulding (Formung)
 

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www.antonygormley.com/viewwip.php?wipid=17&photoid=538

 

Ich beginne an einem Punkt, der in einer „Korpographie“, wie ich es nenne, festgehalten wird, einem dreidimensionalen Abdruck des Körpers. Am Anfang steht die Intensität des Modellierens, das setzt hohe Konzentration voraus, und dann muss die Figur selbst Gestalt annehmen, manchmal gelangt man nie dahin und muss sie sofort wieder zerstören. […] Die meisten dieser Teile wurden zerschnitten. Die kauernde Figur blieb unberührt, auch die vornübergebeugte. Aber bei allen anderen wurden die Köpfe abgenommen, die Beine, ich habe sie zerstückelt und neu zusammengesetzt, bis es gepasst hat. Es kommt sehr selten vor, dass die Form auf Anhieb stimmt. (87)

 

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www.antonygormley.com/viewwip.php?wipid=17&photoid=546

 


Casting (Abguss)

Die Figuren sind nicht irgendwelche Abbilder, sie sind ein Versuch, jenen Ort, den wir betreten, wenn wir die Augen schließen und uns des Raumes im Inneren unseres Körpers bewusst werden, als massive, dreidimensionale Form sichtbar machen. […] Ich möchte die Distanz spürbar machen, die Spannung aufheben zwischen dem Umstand, dass man sich in einem Körper befindet, und dem Erlebnis visueller Ferne, wo man ein Objekt oder eine Person weit weg sieht und erkennt und benennt. Ich möchte diese beiden Erfahrungen deutlicher unterscheidbar und gleichzeitig einander ähnlicher machen. (96)
 

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www.antonygormley.com/viewwip.php?wipid=19&photoid=568

 

Ich stelle diese Dinger auf eine sehr persönliche Art her, und dann werden sie der Arbeitswelt ausgesetzt, wo riesige Kräfte und Lasten zum Einsatz kommen, über die der einzelne keine Kontrolle mehr hat. Ich mag die Spannung zwischen den Extremen. […] Ja, es geht um den Körper, aber nicht als ein Vehikel für Geschichte und auch nicht mehr als ein Text, der durch die Analyse eines Systems dekonstruiert werden soll. Mich interessiert der Körper nicht als ein Objekt, sondern als ein Ort. Nicht als ein Schauspieler, aus dem wir einen König oder Narren machen können. Mich interessiert vielmehr die Vorstellung eines Körpers als eine Vorgabe, so wie die Architektur eine Vorgabe ist. Sobald man den Körper als einen Ort akzeptiert hat, ergibt sich eine Unzahl neuer Bedeutungen. (98)

 

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Critical Mass“, Remise, Vienna, Austria, 1995 (Photograph by Stephen White, London)
www.antonygormley.com/viewphotoseries.php?photoseriesid=11&photoid=2939&page=21&newsid=171


Ja, Architektur ist der zweite Körper. Daher stellt für mich die Arbeit mit dem Raum dieselbe Herausforderung dar wie die Arbeit mit meinem eigenen Körper. (95)


Atomisierung

In den erst kürzlich abgeschlossenen Serien Quantum Cloud Series (1999-2007) und Bodies in Space (2001-2008) wird die konsequente Dynamisierung der Figuration Körper, Zeit und Raum in Gormleys Œuvre deutlich.

 

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„Bodies in Space V“, 2001
www.antonygormley.com/viewphotoseries.php?photoseriesid=189&photoid=3223&page=1&projectid=66

 

 

The installation of Bodies in Space V acknowledges that all bodies are bodies in space, whether they are the quarks and muons of the subatomic world or the planets of a solar system.

 

www.antonygormley.com/viewproject.php?projectid=66&page=1

 

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„Quantum Cloud XXVII“, 2000
www.antonygormley.com/viewphotoseries.php?photoseriesid=18&photoid=1753&page=1&projectid=25

 

It is an open question in the Quantum Clouds, whether the body is emerging from a chaotic energy field or the field from the body.

www.antonygormley.com/viewproject.php?projectid=25&page=1

 

Fußnoten:
[i] AzW (Hg.): Sturm der Ruhe, What is architecture. Salzburg: Anton Pustet Verlag 2001.

[ii] Dieses Konzept schließt an aktuelle physikalisch-philosophische Diskurse an. Historisch denkt man unvermittelt an Einsteins spezielle Relativitätstheorie (Erstveröffentlichung 1905), die um 1900 mit der Vorstellung des absolut gedachten Raumes und der absolut gedachten Zeit radikal bricht. Raum und Zeit werden in der Physik relativ, das heißt, dass sie sich aufeinander beziehen und nicht unabhängig voneinander existieren. Die allgemeine Relativitätstheorie geht einen Schritt weiter und konstituiert ein System der Relativität aus den vier Grundbedingungen der menschlichen Existenz – Raum, Zeit, Materie und Energie. Die Welt vereinigt sich zu einem vierdimensionalen Gebilde, das die Physiker im Anschluss an Einsteins Theorie „Raumzeitkontinuum“ nannten. Aktuelle Theorien beschäftigen sich mit Quantenkosmologie und ver-rückten Raum-Zeitvorstellungen. Vgl. http://users.ox.ac.uk/~ball0402/pofp/ Die Verbindung zur Kunst wird z.B. thematisiert in Susanne Witzgall (Hg.): Kunst nach der Wissenschaft, Zeitgenössische Kunst im Diskurs der Naturwissenschaften. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2007.

[iii] Die Textpassagen sind Auszüge aus einem Interview mit Antony Gormley von Edek Bartz mit dem Titel 9. August 1995, Ein Gespräch im 9.05-Zug London-Halifax, in Verein StadtRaum Remise (Hg.): Antony Gormley, Critical Mass. Wien 1995, S. 83–113.


(15.03.2009)