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History VII: Danscience Fiction

THE LOST WORLD III. RISE OF THE FIFTH WORLD

Von Rita Monteve
“this chain doth, as it were,
so toeify the knee and so kneeify the toe,
that between both it makes a most methodical coherence,
or coherent method”
(Thomas of Woodstock)
 

IYeeee-haeeeaaaooooh-hoyoooohaaiiiyeeeee! Laut singend erreiche ich Precise, die jüngste Hauptstadt der Provinz Owsdrija, pünktlich um {ix} Uhr Mitternacht und beeile mich, zum Terminal des lokalen Stargate [oder auch: Wo-die-Zeit-ausgelassen-wirkt] zu kommen, in dem ich mich mit einer gewissen Chëin Kxalendjer treffen wollen soll. Für uns wurde eine Reise in die Vergangenheit gebucht, eine von der رقص-C°rp. entwickelte Expedition. Mein Name ist, so heißt es, Kô Reyà, und ich bin angeblich Process Researcher an der Black Mountain University von South-ダンス. Meine Spezialgebiete sind, so sagen die Einträge in meinem Com-Kyn, die chronischen Bearbeitungsflüsse von Shakespeare-Apokryphen, und ich arbeite an einer umfangreichen Untersuchung über Spiegelstrukturen um das Shakespeare zugeschriebene Fragment „Thomas of Woodstock“ (oder auch: „Richard the Second Part One“). Chëin forscht laut Unterlagen an einem großen zirkulären Etymolog über den Begriff „Woodstock“ für das neue ChoreXikon von Precise. Mein Wissen ist vage, aber ich habe unterwegs zu sein.

 

Wir treffen uns um {x.vii/iii} Uhr in dem Glitzerbau vor dem Tor, zwei Minuten vor der programmierten Abreise. Eine der grün gepolsterten d.machines in der Lobby hat uns überprüft und markiert. Chëin lächelt zweimal und reicht mir den kleinen Finger. Wir lassen uns in das warme Fluidum sinken, das unser Vergehen in das Jahr 2058 ermöglicht, in dem wir Moresca Challenger aufsuchen sollen, eine damals berühmt gewesene Dansearcherin, die einen heute verschollenen Fasciention-Roman mit dem Titel „dאnsczαe“ geschrieben hat, ein mehrsprachiges Standardwerk über die Science-Faktionalisierung von Tanz als Kunstform seit der damaligen Jahrtausendwende. Wir sind angewiesen zu hoffen, durch sie an Materialien zu kommen, mit denen wir meine Bearbeitungsfluß-Modelle und Chëins Zirkel-Etyme in den Logiksträngen der sprachlichen Metamotionsfunktion einer neuen d.machine von رقص-C°rp. ineinanderschießen können.

 

Im Jahr 2058 sind Zeitlückenreisen noch pure Science Fiction, und wir werden darauf achten, die Searcherin - wenn sie überhaupt existiert - nicht zu schockieren. Wir sind im Besitz der Information, daß sie erst 2065 sterben wird. Am 30. Juni des Zieljahres landen wir in Proto-Precise (damals: Wien), um exakt 22.30 Uhr lokaler Zeitmessung, nach unserer Zeit etwa {ix.iii/viii}. Es ist wunderbar dunkel, stickig und schwül. Moosige Straßen. Die meisten Bewohner holpern mit sirrenden Radstühlen durch die Stadt. Eine dunstige, verlorene Welt. Um eine Unterkunft zu bekommen, die zu dieser Zeit noch, wie man sagte, „bezahlt“ werden musste, illusionieren wir „Geld“ und erhalten einen kauzigen Raum in einer offensichtlich heruntergekommenen Kubatur, die sich Hotel Sacher nennt. Am nächsten Morgen machen wir uns auf die Suche nach Moresca und finden sie mit unseren Sensorkyns [kyn: ein auf griech. kynós zurückgeführter Begriff, sagt Chëin, der aber mit der ursprünglichen Bedeutung „Hund“ nur noch die Assoziation „Spürnase“ gemeinsam hat und eine handliche Universalapparatur bezeichnet] überraschend schnell, innerhalb nur einer lokalen Stunde, in ihrem Büro.

 

Ms Challenger existiert also wirklich. Blasser Teint, schwarzes Haar bis zu den Schultern, sehr schlank, dunkelgraue Bluse und Jeans. Wir stellen uns mit unserem für sie sicherlich etwas exotisch klingenden Akzent als junge Dansearcherinnen aus China vor. Sie sieht unsere Camoudresses offenbar als authentisch an, ihr Blick wandert zwischen unseren Gesichtern hin und her. Sie lächelt, und wir sehen an den Energiemustern ihres Hirns, dass wir nicht beunruhigend auf sie wirken. So haben wir uns auch adjustiert. Sie lehnt sich in ihrem Schreibtischsessel zurück und fragt uns, womit genau sie uns helfen kann. Ich sage: „Wir sind an ihrem Buch interessiert.“ Von Shakespeare sage ich nichts. Ihre Augen flackern kurz, dann läßt sie ihre Finger über eine mit Zeichen bedruckte Folie gleiten. Sie nannten ihr Infosystem damals Deltanet. Moresca beginnt zu sprechen. Jemand bringt uns Behälter, deren Inhalt wir unbemerkt neutralisieren. Wir sollen das trinken. Eine freundliche Geste. Chëin nippt.

 

Gut, dass die Frau nicht weiß, wie unsere Körper wirklich funktionieren. Sie hält uns für ihresgleichen. „Im Jahr 2008 beispielsweise“, sagt sie, „hat man sich überlegt, wie der Tanz in der Zukunft aussehen soll.“ Wir stellen erwartungsvolle Mienen zur Schau. „Das Format hieß (Precise) Woodstock of Thinking." Precise? Ich schaue Chëin an. Hat man damals schon gewußt, daß Wien einmal Precise (pre für vor und cise für diesseits, hat Chëin erläutert und behauptet, die Stadt rage semantisch gefährlich über die „Klippe des Hier“) heißen würde? Chëin übermittelt mir, ohne dass Moresca das bemerkt: „Nein.“ Ich bin unsicher. „Wie sah dieses Modell aus?“, frage ich laut ins Blaue. Wir sind beide stolz auf unsere Kenntnisse der damaligen Sprache.

 

Moresca Challenger versucht, sich ihr Interesse an den beiden freakig gekleideten Girls aus China nicht allzusehr ansehen zu lassen. China war in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts eines der großen Laboratorien für choreopraktische Heterosthetik. Die beiden sprechen gebrochenes Deutsch, aber ihr Akzent klingt gar nicht nach dem jener Chinesen, die Moresca bisher kennengelernt hat. Die Datenlage zu dem Format und der Zeit danach ist gut. Heute, im Jahr 2058, existieren drei große choreografische Zentren in Wien, was vor einem halben Jahrhundert noch undenkbar war. Sie schaltet vom Monitor auf die Projektionswand um. Flackernde Bilder. Eine junge Frau spricht Englisch mit französischem Akzent. Heute, mit 80 Jahren, leitet Mme. Anne Shuren immer noch ein Tanzzentrum in al-Bahrain. In dem Video spricht sie von einer „Wahrsagerin“ und läßt das immer wieder auflachende Publikum eine Bandaufnahme anhören. Das Wort „Stagnation“ fällt.

 

Das (Precise) Woodstock of Thinking fand damals in jenem Tanzquartier Wien statt, aus dem später auf Betreiben einer großen Versicherung und der Administratoren das Choreopleks geworden ist, eine tolle Showmaschine, auf Stelzen in die Donau gebaut, futuristische Architektur aus der Zaha Hadid-Schule, mit Kinos, Simulatoren, Spielwiesen, Live-Plattformen und einem Unterwasser-Showcase. Dieses Woodstock-Material hat Moresca noch gut in Erinnerung. Es hat ihr einige Grundlagen für ihr Buch geliefert. Eine gewisse Christine des Medt wendet BMC an einer Frau an, die sich auf den Boden legen muß. Body Mind Centering ist heute eine der beliebtesten Mindfind-Techniken, erst so richtig hip geworden in der Postfit-Ära, damals war es noch eine reine Artstrategie. Und Filip Gemacher (seltsamer Name, „gem“ und „acher“..., in die Namensfiles könnten sich Fehler eingeschlichen zu haben, sagt ein kleines Fenster auf dem Schirm)! Verdammt, mit seinen 83 noch immer aktiv, ein „Wittgenstein der Choreografie", wie der Ghostwriter Fred Archtor in den 30ern behauptete.

 

In Morescas Büro ist es still geworden. Die beiden Girls sehen sich die Videoaufnahmen an, ohne Ausdruck in ihren Gesichtern. Die eine, die sich als Jane vorgestellt hat und wie ein Klon von Devon Aoki in Quentin Tarantinos Klassiker „Kill Bill“ aussieht, nippt an ihrem Kaffee und stellt die Tasse gleich wieder hin, mit einer Bewegung, die abgehackt erfolgt, als ob sie mehrmals zögerte. Die andere hält ein glitzerndes kleines Objekt in ihrer rechten Hand, an dem sie hin und wieder mit ihren Lippen spielt. Die Aufnahmen der Module von (Precise) Woodstock of Thinking sind, abgesehen von den namefiles, nur mäßig beschädigt und für Researcher mit den entsprechenden Paßwörtern über das Deltanet abrufbar.

 

Chëin Kxalendjer und ich bemühen uns, unsere Begeisterung zu verbergen und den Verhaltenskodex von Morescas Gegenwart nicht zu brechen. Wir verkneifen es uns also, einfach draufloszutanzen. Das hätte in den Camoudresses ohnehin nicht funktioniert. Wir sind aufgeregt, weil dieses Material in den Memorystorages von Precise im Jahr 3008 nicht mehr existiert. Die 300 Winterjahre zwischen 2203 und 2503 haben nicht nur die alten Gesellschaften zerstört, sondern auch viele Daten erodieren lassen. Immerhin wurden 2880, als die Erdbevölkerung wieder auf fünf Milliarden angewachsen war, die ersten d.machines angeworfen, die wichtige Reparaturen an den eingefroren gewesenen Communitysystemen vornahmen und ab 2968 die Stargates entstehen ließen. Moderne d.machines (eigentlich dancemachines, hervorgegangen aus den wilden, mobilen chancemachines) organisieren heute alles, und eigentlich weiß niemand mehr, warum sie immer noch so heißen, außer Freaks wie mein Sexsharer Murobu Shee, der an einem der Checkdesks der Produktionsanlage für die d.machines einen Teil der ChI-Geburten überwacht. ChI (ein Zusammenschluß aus dem griechischen Chi [X oder χ] und dem chinesischen 氣] für ChorIntelligence.

 

„Die Maschinen sind Koordinationskomplexe, die unsere gesamte Versorgung in Fluß halten“, hat mir Murobu knapp erklärt. Auch unsere Memorystorages sind d.machines, die alle Daten in Fluß halten. Dadurch werden ununterbrochen Bezüge hergestellt und damit neue Datenebenen erzeugt. Nur auf Basis dieser selbstgenerierenden Systeme ist eine Woodstockforschung überhaupt von Nutzen. Die Stargates etwa sind Produkte von ChIs, die synchron geschaltet autonom über 60 Jahre lang an ihrer Herstellung arbeiteten. Murobu hat einmal eine chancemachine aus der Technothek entliehen und mit einer ChI zusammengeschlossen, worauf sich an den Synapsmodulen des Adapters Topochronit bildete, aus dem heute die neuesten d.machines ihre Energie beziehen. Seit diesem technischen Quantensprung gehe ich mit einem Star ins Bett.

 

„Man muß berücksichtigen“, sagt Moresca, „daß es damals, 2008, von ausgesprochenem Interesse war, die Qualität von Zeitbezügen in den Kunstwerken einzuschätzen. Dieses Woodstock-Format hätte, glaube ich, das altakademische Ritual unterbrechen und eine Art Pop-Logik in die Forschung einbringen können. Aber so ist es nicht gekommen.“ Chëin hat die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts studiert und weiß, wovon die Dansearcherin spricht. 2058 gibt es eine Unterscheidung zwischen „progressiver“ oder „konservativer“ Kunst nicht mehr. Ich versuche mir vorzustellen, was „Kunst“ im 21. Jahrhundert bedeutet haben könnte. Die hatten ja noch nicht einmal chancemachines, geschweige denn ChIs. In unserer Zeit wird diese Vorstellung gerade wieder rekonstruiert und in Hunderten von dynamischen, visuellen und akustischen Modellen studiert, die sich miteinander verbinden lassen und permanent neue Strömungen bilden.

 

Rekonstruiert wurde vor drei Jahren auch die Figur eines gewissen Jan Ritesema (übersetzt vermutlich: Riten der Semantiker), sehr schön als Digimorph. Daran erinnere ich mich, als Moresca den ursprünglichen Ritesema auf den Schirm bringt, wie er hinter einem kleinen Tisch sitzt und spricht. Die Kunstmodelle sind der Renner bei den ChoreXikanern unter uns. Die in ihnen gespeicherten Prozesse werden sogar nachgespielt, was Murobu dazu verleitet hat, die entfalteten Körper der ChoreXikaner zu großen mimetischen Dynamos zusammenzuspannen und ihre Ströme aufzuzeichnen, die wiederum die unglaublichsten Formen annehmen konnten. Das Ritesema-Digimorph war begeistert und lachte viel, bis es an ein anderes Digimorph gehängt wurde, das Jean MacAdolphe hieß. Es folgte eine kleine Intimplosion, die eine der d.machines im Labor 6A4 der رقص-C°rp. leicht beschädigte.

 

Moresca mag die Stelle in der Aufzeichnung des Vortrags besonders, an der Ritesema sagt: „Wer über die Zukunft sprechen muß und sie so in Besitz nimmt, hat Angst davor.“ Wie Ritesema damals annahm, hat sich Tanz und Performance prinzipiell nicht sehr verändert, aber die Gesamtkonzeption von Kunst ist nun auf eine perzeptive Kreativität hin ausgerichtet. Der Austausch zwischen Angebot und Nachfrage hat 2058 eine andere Qualität, wie sie im kleinen Pariser Zentrum Pafskite kürzlich von einer Gruppe junger Cultsearchers untersucht wurde. Auch das Wiener Choreopleks ist ein Erlebnisort. Nicht so kathedral wie die 2025 von Jochen Sandig gegründete Berliner PinaKothek, in der Pina Bausch beerdigt liegt, und um die herum Sasha Waltz damals große Weiheprozessionen gestaltet hat. Bis heute wenden Tänzer bei Kopfschmerzen das gute Pinawasser aus der feinen Wesemann'schen Destillerie an. In Hamburg wurde nur ein Jahr später das John-Neumeier-Aquarium eingeweiht, in dem Delphine nach dem Spätwerk des Meisters dressiert werden. Im ChoreoPleks sind drei der Fische bei einem Gastspiel verstorben. Der Nachruf auf diese wundervollen Tiere wurde in Labanotation verfaßt und weltweit getanzt.

 

Unauffällig haben Chëin und ich uns ins Deltanet eingeschleust, dafür brauchen wir außer dem Com-Kyn keine extra technischen Geräte. So haben wir alle Informationen, die wir brauchen, um uns mit Moresca unterhalten zu können, binnen weniger Sekunden abgeschöpft. Als Goran Serge Pristas mit Bezug auf Taylor und Laban von „Schattenbewegungen“ spricht, beginne ich zu schwärmen, bis Chëin mir signalisiert, ich solle mich gefälligst konzentrieren. „Ritesema ist ein Timesurfer“, sagt es aus mir. Moresca lächelt mich an. Chëin: „Er argumentiert auf mehreren Ebenen zugleich, ein performativ geschichtetes Modell.“ Der kleine Vortrag zielt sichtlich darauf ab, die Rolle von Auditorien als Erfinder der Kunst darzustellen, für die Künstler das Geld kassieren. Künstler, meinte er, würden versuchen, ihr Publikum zu abzustumpfen.

 

„Hört auf, in Utopien zu denken“, sagt der kleine, drahtige Mann mit Glatze in der verschwommenen, pixeligen Aufnahme. Utopie. Ich rufe mir gerade das große Etymolog zu diesem Begriff ins Gedächtnis, als meine Verbindung zu Chëin instabil wird. Shit, wir finden keinen adäquaten Zugang zu der Materie mehr! Die fortwährende Rekonstruktion der Denkmuster von 2008 und 2058 ist anstrengend. Für uns haben die Begriffe einfach andere Bedeutungen. Zum Glück fällt der Strom aus, und Moresca erschrickt. „Das war's“, murmelt sie unwirsch. Chëin steht auf und sagt, sie wolle das Choreopleks sehen. Moresca zögert. Als ich frage, ob ich ein Exemplar ihres „dאnsczαe“ erwerben könne, schnaubt sie unwirsch. Zögernd reicht sie mir das schwere, in lüsternen lila Kunststoff gebundene Buch.

 

Im Choreopleks - in Wien gibt es daneben noch den DanceDome, das vormalige TanzOdrom, in dem große Parties stattfinden und vor allem junge Wiener verkehren, sowie für das ältere Publikum den großen Ballettpalast auf dem Karlsplatz in der Nähe der Oper - erhalten wir gerade noch Eintrittskarten für eine ThreeDeeCalligraphee-Show, in der bunte dreidimensionale Graphen wild zuckend, sich überschlagend und windend in den Raum projiziert werden und gemäß ihren Soundwerten Musik erzeugen. „Wir könnten die ganze Nacht hier verbringen“, sagt Moresca, als wir an den blinkenden Terpsitons vorbeigehen, Rekonstruktionen der von Lew Theremin 1932 vorgestellten Tanzinstrumente, an denen sich hier Jung und Alt amüsiert. Sie selbst, sagt sie, besucht gerne die DeelyricpARTies im DanceDome, obwohl sie eigentlich schon zu alt dafür ist: tolle Lightshows, Trancedance und rückstandsfreies Doping.

 

Am Ende des Stücks, in der Warteschlange zur Waterdance-Arena, fragt Chëin Moresca nach der Geschichte des Choreopleks. „Damals gab es noch eine ganz andere Gewichtung“, lächelt Moresca milde. „Das damalige Tanzquartier wurde später zu klein.“ Also seien die großen Artlabs, die die Universität für angewandte Kunst ersetzten, gebaut worden, ein cooler Spielplatz für Eventive Creativity inklusive so anarchischer wie labyrinthischer Underground Dance Spaces, und eben das Pleks im Fluß. Im Stagebassin und vor viel Publikum treten Les Ballets d'eau de Paris auf, mit einer neuen, aufsehenerregenden Bodyflash-Anlage. „Wenn ihr mehr von den sogenannten künstlerischen Dingen sehen wollt, die ich untersucht habe, müssen wir in die Underground Spaces“, flüstert Moresca mir zu. Ich bin ein wenig traurig. Eines der Modelle der ChoreXikaner hat auch Figuren hergestellt, die im Wasser tanzen, aber viel poetischer und sehr, sehr langsam.

 

Moresca vergißt ganz, daß sie die beiden Frauen erst seit wenigen Stunden kennt. Seit mehr als vier Jahren ist sie nicht mehr in den Keller-Dance Spaces gewesen. Chëins Augen schimmern. Die Girls sitzen zu ihrer linken und rechten Seite. Wie auf ein Kommendo legen sie ihr die Arme über die Schultern und dann tritt das Wasser aus dem Bassin, wie in Zeitlupe, und füllt in wenigen Augenblicken den großen Saal. Die Musik und die Flashes gehen weiter, kein Mensch im Publikum rührt sich. Moresca will aufspringen und sieht sich mit Kô und Chëin allein. Etwas scheint mit der Zeit zu geschehen. Ist es Sinken oder Hochgeschwemmtwerden, oder ein Abdriften? Morescas Gedanken beginnen zu zerfließen, durcheinanderzuwirbeln, als würden Fische hindurchschwimmen, oben ein Abgrund, in den sprühende Wasserfälle stürzen. Angst! Moresca will strampeln, aber daraus wird nur ein Zucken in ihren Gesichtsmuskeln.

 

Kôs glattes schwarzes Haar flattert um ihre Ohren, und dann zerfällt alles in einen Raum, der sich wie ein Ring durch den Körper zieht und pulsiert „wie zwei Herzen in Essig“, denkt Moresca, und die Hand da ist nicht ihre, etwas spaziert an den Knochen ihrer Beine, etwas anderes schält ein Ei nahe ihrem Uterus, sie spürt Flossen und jetzt ihren Atem, der durch ihre Arterien weht, und Lymphe, die aus ihren Zähnen tropft. Das ist sicherlich ein Schwächeanfall, ein Schwächewächeächechehehe he he... das Lachen schnappt sich eine Lautstärke, die in weitem Bogen Sekundenkörner sät, ein Licht hetzt durch sich selbst als Anagramm ...anananan... Kribbeln als Bohne im Nasenflügel der Motte, deren Augenwinkel Staub ansetzen, die Beine, die Arme so auseinandergezogen, daß sich die Muskeln in die Knochen flüchten ...anana...fallallalalalalalala...all...all...ll...l... che ch ch... yeah, babe, nur kein Exoskelett! E-Xoscelet. Das jault. Super Riffs. Woooooodstock. Wir halten einen Schatten dagegen, der andere sagt, schau, dort ist ein Kriegstanz, der Marionettentanz der Hölle, dort baut sich wie von selbst eine Ablenkung zusammen, dort drüben treibt eine zähe Meditation. Ion. Ion. Ion. On, onn, onnn, nnnnn.

 

Wir lassen Moresca nicht los. Ich singe laut in dem „Wo-die-Zeit-ausgelassen-wirkt“: IYeeee-haeeeaaaooooh-hoyoooohaaiiiyeeeee! Kô hält still. Sie wäre gern noch etwas in dem nervenden Proto-Precise geblieben und hätte sich die Kellerstudios angesehen, aber ich habe sowieso alles gescannt. Da ist anscheinend nichts in diesen Kellern. Dunkel, leer, kalt. Eine Falle. Moresca weiß mehr, als sie sagt. Was hat es mit den leeren Kellern auf sich? Im Stargate-Fluidum scheint eine starke Gegenströmung zu herrschen, das gibt wahrscheinlich einen Zwischenstop. Ich entfalte meinen Körper, und Kô tut das auch. Morescas Augen wirken leer und blind. Sie trägt jetzt Schulmädchenlook: Weißes Hemd und sehr kurzes Röckchen. Kô kichert: „Schulmädchchchchenluhuhuk!“ Eine Zwischenlandung kann sehr ungünstig werden, denkt Kô, als ein Kopf hinter einer großen Brille auftaucht und sagt: „My name is Mårten.“


„Ich schicke dir Glück und Frieden, Mooorten", murmelt Moresca. Von der Decke hängt ein Topf mit einer fleischfressenden Pflanze, und ein Kurzschluß macht einen Loop in das Muster des Ganzen, sodaß es zerfällt. Wir falten unsere Körper wieder zu jenen von chinesischen Girls zusammen und adjustieren unsere Chamouflagedresses. Moresca liegt ein wenig verdreht auf dem Holzboden. Sie scheint aufzuwachen.

 

„Der Ballettpalast ist erst 2056 fertiggeworden. Seitdem wird dort Schwanensee gegeben, Aschenputtel und der Nußknacker, die gesamte Ballettliteratur bis hin zu Spuck und Spoerli mit wechselnden Ensembles und einer Troupe de la maison, denkt Moresca, schlägt die Augen auf und erblickt ein unförmiges Ding, das auf sie zurast“, flüstert Moresca in Kôs Ohr. „Wir müssen näher an das Woodstock heran.“ Chëins Augen blitzen. Manga! Die beiden haben sich wie Manga-Mädchen gestylt! Wo bin ich? „Wir machen einen Zwischenstop“, sagt Kô freundlich. Das Zimmer sieht so aus, als wäre es vor tausend Jahren verlassen und seitdem nie mehr betreten worden. Sie müßten näher an das Woodstock heran. Kôs Stimme wirkt unsicher. Chëin: „Wir hatten eine starke Gegenströmung. Ich sehe, wir sind in einem Winterjahr, das Kyn sagt 2261.“ Moresca lacht laut. Das ist ein Digigame. Ich bin in einem Spiel gefangen! Vermutlich eine ganz neue Art von Show im Choreopleks, diesmal auf Psycho, sehr eigenartig. Wo sind die Wassertänzer?

 

Ein dumpfer Knall, der Boden vibriert. Vor dem Fenster bewegt sich etwas. Rotierende Lichter in allen Farben, es dudelt und jubelt. „Eine Stamermaschine! Die suchen uns!", schreit Moresca. Chëin und Kô lachen: „Die gibt es nicht mehr. Wir Timeshifters sind außerdem im Winter unsichtbar." Moresca schluckt. Timeshifters. Das Spiel wirkt gruselig echt. Wenn es ein Mangaspiel ist, wäre das etwas retro, aber warum nicht. Alles kann sein, wenn es nur spannend ist. Kô trägt immer noch das Buch - das im hinteren Deckel eine kleine Platine enthält, die über einen ebenfalls in den Band integrierten Monitor abgespielt werden kann. Beispielsweise ein Spielfilm mit Fran Pulstra, Robyn Stein und Kris Hering in den Hauptrollen, die auf der Jagd nach verlorenen Aufführungen sind. Billi Mitterli und Armina Handke spielen Tanzengel, die Hans-Thies Mehmann und Rick Alsoap als Veronica Kawp-Haser und Siegfried Gareis verkleidet besuchen und versuchen, mit Geza Siemer eine Gang zu bilden, die bei der Londoner Olympiade 2012 auftreten soll. Keith Kohn, der die Eröffnungsshows leitet, erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird von Katherina Zakr reanimiert, woraufhin Dan Ashwonder einspringt und mit Martin Achbar gemeinsam die Olympiade rettet. Alles mit Handkamera gedreht.

 

„Die Expedition verläuft nicht so, wie ich sie mir vorstellt habe“, sagt Chëin ungeduldig. „Der Stromausfall hat uns aus dem Konzept gebracht", wirft Kô ein. „Wir sollten zurück nach Precise, bevor uns der Kredit ausgeht.“ Zu Moresca sagt Chëin unsicher: „Willst du in die Zukunft oder in die Vergangenheit?“ Moresca weiß, daß es nun an ihr ist, über den Ausgang des Spiels zu entscheiden: „Wo liegt Precise?“ - „Na, hier!“ - „Ja, dann auf ins Jahr 5008!“ Begeistert stimmen die beiden Girls zu. Das Fluidum ist wieder ruhiger geworden.

 

Ein weiter, menschenleerer Strand. 5008. Brütende Hitze, und weit draußen ist ein Schwarm Vögel zu sehen. Precise ist verschwunden. Wellen schwappen. „Nie war Woodstock ferner als jetzt“, stammelt Chëin. Es ist heiß, klarer violetter Himmel, die Sonne steht noch tief. Ein Morgen. Die Luft beginnt zu flirren. Keine Vegetation. „Wir sollten weg“, sagt Kô. Etwas Unangenehmes liegt in der Luft. Das Kyn arbeitet auf Hochtouren. „Das sind Nachkommen der d.machines. Überall!“, ruft Chëin. Sie sehen aus wie Krabben aus Plastik, und sie sind handtellergroß. Zu Tausenden kriechen sie aus dem Wasser. „Und nur d.machines, ein paar Vögel und Fische, das wär's, keine andere Lebensform weit und breit.“ Das Kyn zeigt an, daß der zweite Winter etwa tausend Jahre angehalten hatte. Moresca protestiert: „Das ist ein langweiliges Spiel. Abbrechen, bitte, ich möchte zurück ins Büro!“ Kô nickt.

 

Im Büro gibt es wieder Strom. Morescas Hände zittern. Ist sie noch immer im Spiel? Hat sie alles nur geträumt? Keine Spur von den China-Girls. Eines ihrer Bücher fehlt. Sie blättert in einem Exemplar, stößt auf das satirische Kapitel, in dem Janiz Jansa mit Tom Etchells Simone Aoghterlony aus einer wüsten Stuhlburg von Jules Deutschbauer rettet. Ein furchtbar witziges Buch! Morescas Augen werden feucht. Auch Armada Piña - berühmt geworden durch ihre Jérome Bel-Adaption „Ich bin Piña Bausch“ - hat es gelesen. Piña hält „dאnsczαe“ für eine Verrücktheit. Moresca erzählt die Geschichte des Wandels, von der Eso-Dekadenz der unheimlichen Zehnerjahre bis zum Neokonzeptualismus der Zwanziger und dem Aufstieg der chinesischen Choreografie, der illuminativen Revolution und damit der Auflösung der Genres in den Fucking Thirties, als das Choreopleks gebaut und die Underground Dance Spaces gegründet wurden. Aber sie versucht auch, die Dilatation, also Erweiterung der Choreografie durch die heterozönische, in mehreren Sparten aktive Tänzergeneration der Twenties mit der allgemein als avantgardophil kritisierten brandstetterschen Diploe-Theorie der Verdoppelung über den Bruch - von Definitionsschelfs - zu erklären. Morescas Versenkung von Theoremketten in die Sümpfe des Anekdotischen wurde auf verschiedenen Tagungen als Strategie der Konservierung gedeutet. Und Moresca hat versucht, diesen Verdacht selbst als Schema der Bewahrung dessen darzustellen, was sie „Normfanatismus“ nannte. Akademische Routine also.

 

Als Moresca mit ihrer Arbeit fortfahren will, entdeckt sie, daß der Bildschirm mit ihr unbekannten Zeichen gefüllt ist. Könnte sein, daß das Deltanet wieder einmal streikt. Als sie die Tastaturfolie berührt, erscheint undeutlich Chëins Gesicht auf dem Monitor.

„Wir sind jetzt ganz nah an dem Woodstock", sagt Chëin mit ein wenig verzerrter Stimme. Lärm im Hintergrund. Moresca sieht, wie Chëin und Kô vor einer großen, wirbelnden Masse tanzen. Das ist doch wie eine Szene aus der Verfilmung des letzten Romans von William Gibson, „The Lost World of Marly Kruschkova“! In dem Wirbel wabern farbige Flecken, und kreischend, scherrend, scheppernd dröhnt Musik aus seinem Inneren. Kô ruft atemlos: „Das ist das gesamte Modell! Alle semantischen Bezüge, alle Daten, alle Szenen, alle Materialien seit Shakespeare bis zum Jahr 3008.“ In dem Wirbel tanzt Rabih M'roué mit Maria Callas, und Ong Kong San liest mit Claudia Besse Apokryphe von Marx. Der Alptraum geht weiter, es ist wie in Morescas Buch. „Inklusive der Ideen aus deinem Buch“, knistert es aus dem Monitor.

 

Moresca Challenger steht auf und nimmt ihren Rubic's Cube aus dem Safe. Sie schließt ihn an die Computerkonsole an und beginnt zu drehen. Der Woodstock-Wirbel scheint sich indes zu destabilisieren, das Bild flimmert. „Was geschieht da?“, ruft Chëin mit dünner Stimme. „Der Cube ist ein Geschenk aus den Winterjahren“, sagt Moresca. Kô steht plötzlich im Büro, mit dem Kyn in der Hand. „Das ist der Prototyp“, sagt sie verstört, „den habe ich noch nie gesehen.“
„Wo ist dieser Wirbel?“, fragt Moresca, die sich wieder ganz gefaßt hat. „In den Underground Dance Spaces“, sagt Kô. „Die verschobenen Räume darin kann man nur mit dem da betreten!“ Moresca hält Kô den Würfel hin. Die lächelt. „Und mit dem Kyn.“

 

Das Taxi hält vor den Artlabs. Zwei Uhr morgens. Die beiden Frauen verschaffen sich mit dem Würfel Zugang in das Gebäude und nehmen die Treppe in den Keller. Der ist erfüllt von einem ohrenbetäubenden Lärm. „Das Woodstock ist beinahe zu Ende untersucht“, schreit Kô in Morescas Ohr. In einer ausgedehnten Halle schwebt der Wirbel, an dessen Außenbegrenzung breite, lumineszierende Girlanden zucken, darunter tanzt Chëin, wie unter dem Auge eines Hurrikans, und sie sieht mit ihrem entfalteten Körper aus wie Loïe Fuller.

 

Wenig später ist der Spuk zu Ende. „Ich habe alles aufgezeichnet“, frohlockt Chëin. „Hier“, sagt Moresca Challenger, „wird die Zukunft des Tanzes gemacht.“ Sie dreht an dem Würfel. „Es gibt sechs Kombinationen, die die Winterzeit in die unsere holen, in diese Spaces.“
„Woher hast du den Prototyp?“, fragt Kô.
„In einer Toilette gefunden.“
„Sehr lustig!“
„Okay, okay. Michikatsu Mazune und David Zufall haben ihn mir hinterlassen, und das ist die Wahrheit. Die hatten ihn von Fran Pulstra und Robyn Stein, die einmal während einer Performance versehentlich in eine Zeitspalte gefallen waren und dann mit einem Kater, ohne Erinnerung und mit dem Würfel aufwachten.“
„Sie waren also in der Zukunft, lange bevor es Zeitreisen gab.“
„Ja, aber sie wußten nichts mehr davon.“
Chëin hantiert mit ihrem Kyn: „In den Winterjahren gab es mehrere Zeitstürze. Es heißt, Philip K. Dick habe damals als Genrekonstrukt den Cube von dem Planeten Plowman mitgebracht und gemeinsam mit dem Digimorph von E.T.A. Hoffmann an einer Verfilmung des Galaktischen Topfheilers gearbeitet.“


„Der Cube ist ursprünglich ein Implikator gewesen“, ergänzt Kô. „Durch die Zeitstürze wurde er von einer implizierenden Konsole zu einem Proto-Kyn, über das die ersten funktionierenden d.machines designt wurden.“

Ich bin Chëin Kxalendjer. Wir sind an unserem angeblichen Ziel. Nicht das Buch ist die Quelle, sondern die Underground Dance Spaces. Morescas Quelle. Um zu sehen, was darin unter dem Wahrnehmungs-Diploe vorgeht, mußt du die Codes entschlüsseln. Mein Kyn hat eine Topochronitplatine und schafft das in Sekunden. Die Räume haben begonnen, sich wie Rubic's Cubes zu drehen, und in die Leere kamen die abgefahrensten Projektionen. Ich schleppe Moresca in das Blaxploitation-Studio, in dem ein Forsythoid ganz alleine tanzt. So etwas hat sie noch nicht gesehen, und ich auch nicht. Es besteht aus siebenundvierzig Dividuen, die den Raum biegen, dehnen und drillen. Sie singen in tausend Farben, dirgiert von einer XLR-Marionette in der Gestalt einer Synekdoche. Über dem Geschehen schwingt ein Saussure-Teppich, von dem Sprechschäume in schillernden Clustern tropfen. Kô kommt gelaufen und zerrt mich und Moresca davon, über eine enge Treppe in ein tiefer liegendes Geschoß. Dort schreit Moresca auf, als sie die graugrünen Palimpseste erblickt, aus denen Zeichen wie Hornissen schießen, angriffslustig, wie es scheint.

 

Das ChoreXikon kennt diese Phänomene nur zu gut: Systeme, die, in Kommunikatiome eingesetzt, die von diesen gehaltenen Abläufe umlenken und mutieren können. Ein frühes Super-Labanem, hoch infektiös, aber noch in einer fixierbaren Gestalt. Ich beruhige Moresca: „Das ist nur ein Modell.“ Kôs Stimme klingt verzerrt: „Hier geschieht etwas schreckliches!“ Wir ziehen uns vorsichtig zurück aus diesem Waterloo der Zeit. Als wir die Stufen wieder hocheilen, empfange ich starke Impulse von oben, und ehe wir noch reagieren können, kippt die Treppe und läßt uns in eine nijinskatgefülltes Sphäre gleiten, die uns schier den Atem raubt, weil in ihr lange Fahnen schweben, auf denen Soundperlen gelbe Schlieren ziehen, die in schrillen Loops die Formel „Zakr d' imprintemps“ funken.

 

Da begreife ich, daß wir zu Disastronauten in einer DysCoDanse-Falle geworden sind, daß die Underground Studios hier die Winterzeit vorzeichnen, das glitzernde Versprechen des Umbruchs im McKenzie-Performancestratum von 2058. Mein Kyn schlägt Alarm und löst Glücksgefühle aus. Ich verfalle in eine sogenannte Kraussche Katalepsie des Ausspannens (KraKatAu). In den Augen Morescas spielt ein Glitzern, das ich zunächst nicht deuten kann. Als ich in die Richtung blicke, die ihr Blick vorgibt, sehe ich das Charmatzhoghon über den Boden kriechen. Es besteht aus einer Verschmelzung verschiedener Lachenmanneme in einer Callaskade, die dünne Fäden in Richtung der „Zakr“-Formel aussendet. „Das war damals so sexy“, stöhnt Kô, die damit auf eine kommunikative Heterogenetik hinweist, wie es sie ‘58 noch gar nicht gegeben hat.

 

Dem Charmatzhogon entströmt ein betörender Duft, und ich weiß nicht, ob dieser eine Konstruktion meines KraKatAu-Zustandes ist oder das tatsächliche Aroma des Dings, das dunkel tönend über den Boden perlt, wobei die Perlen schnell Dendriten aussenden, sich miteinander verbinden, und, ehe wir's uns versehen, hat das Modell uns verschlungen und in etwas Kühles, Samtiges gebracht, das wüste Bilder wie aus den Erzählungen von Tausend Plateaus erzeugt. Eine astreine Perfumance!

 

Als Moresca erwacht, spürt sie den Körper des Schlafs eng an ihre Haut geschmiegt. Sie erkennt, wie zwei Wesen, die aussehen, als hätte sie ein begnadeter Origamivirtuose gefaltet, in sich träge drehenden und leise flüsternden Dunstwolken schweben. Moresca erkennt sofort, daß diese Wolken den Visualisierungen der berühmten Laarmanschen Modelle ähneln, auf die ihr Buch aufgebaut ist. Diese Modelle, generiert über das Siemersche Komplizen-Äquivalent, stellen Kommunikationsfunktionen innerhalb der neueren Subversionsdynamiktheorie dar, in der tayloristische Logiken als Umstülpungen erscheinen. In ihrer Entwicklung finanziert von der bis heute aktiven Schoellhamer-Stiftung, wurden die Laarmanschen Modelle vor zwanzig Jahren als administrationsgefährdend eingestuft. Im Deltanet gelten sie seit kurzer Zeit als verschollen. Gelöscht wahrscheinlich...

 

Die Wesen singen so schön, daß Moresca erschauert, und sie fühlt ihren Schlaf schmelzen. Langsam dreht sie an ihrem Cube. Die Dunstwolken lösen sich auf. Zwei China-Girls stehen stumm vor ihr. Eines hält ein seltsames Ding vor sich hin: „Es gibt noch eine Ebene, die du mit deinem Würfel nicht erreichst.“ Moresca nimmt das Kyn vorsichtig an sich und führt es an ihre Lippen. Sofort fährt alles in ihr auseinander wie ein aufgeschreckter Schwarm. Sie spürt die Wärme des Fluidums. Die Zeit wird ausgelassen. „Das ist Precise“, lacht die Konstellation.

 

Moresca steigt vom Rand eines Beckens, in dem eine glitzende Flüssigkeit schwappt. Die Konstellation hat Gliedmaßen, Köpfe, Torsi wie aus gefaltetem Papier. Sie bewegt sich in erstaunlichen Mustern. Und sie singt. Im Flug über die Kristallkonstruktionen der Stadt formen die Gesänge von Kô und Chëin Bilder, die sich wie zitternde Saiten durch Morescas Körper ziehen. Als diese Bilder schwächer werden, sagt die Cochain: „Du bist in der Punkture - jenseits der Petersgrenze in der fünften Welt." Hoch in der Luft, in einer Barke aus hauchdünnen Membranen, den semantischen Verbindungen zwischen Körperglied und Textträger, zerfällt Moresca Challenger als Fremde und wird von einer kleinen d.machine sofort in ein farbenprächtiges Digimorph umgerechnet. Als solches gleitet sie in die beiden Wesen, und diese lenken die Barke über das große Morrison-Riff, über die tanzenden Lichter eines uralten Gebäudekomplexes, auf dem geschrieben steht: رقص-C°rp.


Referenzen (Auswahl):
Marcio Souza: The Lost World II. The End of the Third World. Avon Books 1993.
Philip K. Dick: Der galaktische Topfheiler. Heyne Verlag 2005.
Arthur Conan Doyle: The Lost World. Penguin 2008.
William Gibson: Neuromancer. Ace Books 1995.
Jon McKenzie: Perform or else. Routledge Chapman & Hall 2001.
Roland Emmerich: Stargate. USA 1994.
Ridley Scott: Blade Runner, USA 1982.
Hans Kneifel: Marionettentanz der Hölle. Moewig Verlag (Perry Rhodan Planetenromane) 1973
Quentin Tarantino: Kill Bill. USA 2003/04.
Frank Schätzing: Der Schwarm. Fischer Verlag 2005.


Rita Monteve * 2018 in Chance Gulch/Choreia, ist/war Fellow Dansearcher an der University Smallville/CH. Publikationen u.a.: „Star Dancer II“ (2039), „Songs for Feldenkrais“ (2041), „100 Percent No Wind No Word. Revisits“ (2044), „Neuronic M(o)use. An Anthology“ (2053). Verschollen 2058.

Übersetzung aus dem Choreianischen: Helmut Ploebst

(16.11.2008)