Burgtheater der Grausamkeit

“VIELGELIEBTES ÖSTERREICH” MIT QUALTINGER, SCHLINGENSIEF UND BRUGUERA

Von Helmut Ploebst

Vor zehn Jahren legte Christoph Schlingensief den Grundstein für ein nachhaltiges Projekt: das Operndorf Afrika in der Nähe von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou. 2020 bietet noch einige weitere Anlässe, sich an den deutschen Künstler zu erinnern. Im Oktober wäre er sechzig geworden, im August jährt sich sein Todestag zum zehnten Mal, und im Juni 2000 stellte er unter dem Titel Bitte liebt Österreich! einige Container auf den Herbert von Karajan-Platz neben der Wiener Staatsoper, umzäunte sie und eröffnete auf dem so eingegrenzten Areal ein künstlerisches, wie es heute hieße, „Ausreisezentrum“.

 

Das Operndorf Afrika existiert noch. Und es ist aktiv. [1] „Durch Kunst lernen die Kinder nicht nur leichter in der Klasse, sie können sich auch in ihrer Gesellschaft besser ausdrücken“, sagte Abdoulay Ouedrogo, Schuldirektor im Operndorf, zu Beginn dieses Jahres. [2] Diesen Faden des Lernens hätte die kubanische Künstlerin Tania Bruguera während der Wiener Festwochen 2020 in ihrem Projekt Bitte liebt Österreich! – Schule für Integration gerne aufgenommen. Die Pandemie hat das verhindert.

 

„Rettet den Kapitalismus – schmeißt das Geld weg“

 

Ein Vergleich mit Schlingensiefs Wiener Aktion zwei Jahrzehnte davor legt nahe, daß der Anteil von asymmetrischer künstlerischer Logik in Brugueras „Arte Útil“ geschrumpft ist. Doch auch das Operndorf Afrika scheint utilitaristisch [3] der Struktur eines Sozialprojekts zu folgen – wäre da nicht dieser innere Widerspruch: Was hat das europäische Gesamtkunstwerk Oper mit Afrika und dessen Kulturen zu tun? Sévérin Sobgo, der das Operndorf-Projekt koordiniert, erklärt dazu: Es „war immer sein [Schlingensiefs, Anm.] Leitmotiv, eine Oper zu schaffen, aber nicht im Sinne von Richard Wagner, sondern als Ort der Begegnung und des Austausches von Kulturen und Personen mit unterschiedlichen Horizonten.“ [4]

 

Christoph Schlingensief hatte einen Begriff von Begriffsverschiebungen, ob bei Aktivismus, Performance oder Oper, in dem das Unterlaufen von Stereotypen, Schwarzweißdenken und Propaganda stets enthalten war. Seine Kunst zeigte sich im Bearbeiten von inneren Widersprüchen, Rettet den Kapitalismus – schmeißt das Geld weg (wurde 1999 von Willy Brandts Witwe verhindert), Tötet Politik, Kirche der Angst oder eben Bitte liebt Österreich! Die Wiener Aktion kompromittierte letzten Endes eine perverse Form von „Liebe“, die auf Haß gründet. [5] Diese Perversion ist etwa in jener Besitz-„Liebe“ zu finden, die zwischenmenschliche Beziehungen beherrschen kann, in mißbräuchlicher Tier-„Liebe“ (etwa nicht artgerechter Gefangenhaltung) oder in der angeblichen Heimat-„Liebe“ nationalistischer Ideologınnen.

 

Im Dokumentationsmaterial zu Bitte liebt Österreich! findet sich ein Foto von Plakatständern der FPÖ, die vor zwanzig Jahren unter anderem affichierte: „Stop der Überfremdung!“ Als durchgehender Slogan diente der Vorläufer von Donald Trumps nationalistischem Mantra „America first“ – „Österreich zuerst!“

 

Verschwommen, aber deutlich: Wahlwerbung der FPÖ vor 20 Jahren. Foto: Real Fiction

 

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen sagte vor einem Jahr in Reaktion auf die sogenannte Ibiza-Affäre: „So sind wir nicht, so ist Österreich einfach nicht.“ [6] Gemeint waren die verdeckt dokumentierten Aussagen des seinerzeitigen FPÖ-Parteiobmanns Heinz-Christian Strache und seines Parteikollegen Johann Gudenus, der damals als „nicht amtsführender Wiener Vizebürgermeister“ gewirkt hatte. Die FPÖ war 2000 in einer Regierungskoalition gewesen, und sie war es wieder, wäre es auch heute noch, hätte die Ibiza-Affäre [7] nicht die zweite ÖVP-FPÖ-Koalition gesprengt. Aber wie ist Österreich nun, 75 Jahre nach dem blutigen Ende der NS-Diktatur, die es maßgeblich mitgetragen hat, 20 Jahre nach Schlingensiefs Aktion und ein Jahr nach dem Bruch der erwähnten Koalitionsregierung?

 

Ein kurzer Schnitt in den Ansatz einer Charakterisierung könnte Österreichs Verhältnis zu dem sichtbar machen, was die politische Struktur des Neoliberalismus heute als „Kultur“ ausgibt, in der auch die Künste ihre Schaufenster haben. Österreich kultiviert hartnäckig ein tiefes Mißtrauen gegenüber Intellektuellen. Die Anatomie dieser Skepsis ist bestechend widersprüchlich. Sie enthält in ihren Grundmustern einerseits eine große – unerfüllbare – Sehnsucht nach verläßlicher Autorität und andererseits die Lust, in kleinem Rahmen selbst beherrschend zu wirken (im Extremfall als „Staatsverweigerer“). Selbsthaß und Narzißmus, berechnende Großzügigkeit und ironische Kälte, destruktive Empathie und zugleich sentimentales Mitgefühl, spekulative Offenherzigkeit, Hochstapelei und notorische Lüge sowie Selbstgerechtigkeit unter dem Deckmantel von Zuwendung kennzeichnen den Negativanteil der sozialen Kultur des Landes. Österreich ist in weiten Teilen ein Burgtheater der Grausamkeit.

 

Sinnsprüche von Goethe und Hitler

 

Treffend dargestellt wird diese Verfaßtheit im Monolog Der Herr Karl aus dem Jahr 1961 von Helmut Qualtinger und Carl Merz. [8] „Ich habe ein bescheidenes Leben geführt, aber ich habe es genossen“, erklärt Herr Karl (Qualtinger) in Erinnerung an vergangene Zeiten. „Dann is eh schon der Hitler ‘kommen. Ja, das war ein Jubel, eine Begeisterung, wie man sie sich überhaupt nicht vorstellen kann nach diesen furchtbaren Jahren [der Zwischenkriegszeit, Anm.]! Der Wiener hat endlich amoi a Freud g’habt wieder, a Hetz, man hat etwas g’sehn. Wir sind g’standen, am Heldenplatz, am Ring. Unübersehbar waren wir. Man hat gefühlt, man ist unter sich [etwa bei Hitlers Rede am Heldenplatz am 15. März 1938, Anm.]. Es war wie ein riesiger Heuriger, aber feierlich, ein Taumel. Die Polizisten san g’standen mit den Hakenkreuzbinden. Fesch! – Furchtbar, furchtbar, ein Verbrechen, wie man diese gutgläubigen Menschen in die Irre geführt hat! Der Führer hat g’führt, net, a Persönlichkeit war er – vielleicht ein Dämon, aber man hat eine gewisse Größe gespürt. Er war ja ned groß. Ich bin ja vor ihm g’standen, beim Blockwartetreffen im Rathaus. (…) Hat er mi ang’schaut mit seine blauen Augen. I hab eam ang’schaut. Dann hat er g’sagt: ,Ja, ja!‘ Da hab i alles g’wußt. Wir ham uns verstanden.“

 

Die Verschmelzung der inkarnierten Autorität mit dem kleinen Mann gibt diesem das Gefühl der Macht – genauso wie das heute bei den Wählerınnen von Donald Trump nachvollzogen werden kann –, und so wird Herr Karl zum Blockwart und Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt mit speziellem Sinn für die Zusammenhänge zwischen dem Sozialen und Kultur. Er habe damals, sagt er, im Gemeindebau „eben nicht nur die Beiträge kassiert. Ich habe (…) Sprüche gebracht, Sinnsprüche von Goethe und Hitler, (…) zum Aufhängen.“ Auch nach dem Krieg, als er „Parkwächter wurde im Cobenzl, Autoeinweiser“, habe er, sagt er stolz, „ein Regiment g’führt – mein Lieber!“

 

„Ich bin nur ein kleiner Österreicher innerhalb einer unabhängigen Nation, aber ich weiß Bescheid“, verkündet er dann und legt die Natur des populären Wirtshaustisch-Wissens dar: „Ich war immer kritisch, i hab immer alles durchschaut. Ich hab viel gelesen damals, so wissenschaftliche Sachen, sonst interessiert mi ja nix. Ärztebücher, Einmaleins des täglichen Lebens, Aufklärung (…), dann hab i no g’lesen Strahlenmeer, Weltenraum, alles, was uns angeht, physikalische Sachen, weil, mi wundert nix mehr, was im Weltenraum passiert, weil i kenn mi dort so aus wie im Gemeindebau.“ [9]

 

Verlust an Wertschätzung des Geistes

 

Später erfüllt den Monologisierenden eine gewisse Herzensschwere, die ihn zu einem Bekenntnis gegenüber den Künsten führt: „I brauch ka Theater, ka Kino, von mir aus miasst’s des net geb’n. Des kennan‘s ois z’ammreißn (…) Bissl a Musi is ollas wos i brauch. (…) Lesen oder so tuar i aa nix. (…) Kunst oder solche Sachen! Hab mein Leben nie Zeit g’habt für sowas. Ich habe Wichtigeres zu tun gehabt. Ich habe Aufgaben zu erfüllen gehabt!“

 

Darin eröffnet sich ein Lebensgefühl, das bis heute existiert und sich politisch in einer Ungeduld mit demokratischen Prozessen, in Feindseligkeit gegenüber debattierenden Politikerınnen und einer wachsenden Manipulierbarkeit durch alle sozialen Schichten zieht. Dieses Lebensgefühl existiert in anschwellendem Ausmaß ebenso außerhalb der Grenzen Österreichs. Der Typus „Geistesmensch“ mußte seit dem Aufstreben des Neoliberalismus ab den 1980er Jahren – auf unterschiedliche Art in ganz Europa – einen Verlust an Wertschätzung hinnehmen, wie er ihn zuletzt nur während des Nationalsozialismus erfahren hat.

 

Ähnliches gilt für die in Österreich verbreitet zwiespältige Haltung zu – vor allem experimentellen – Kunstschaffenden und die Pflege einer verächtlich desinteressierten oder ostentativ ablehnenden Einstellung gegenüber der Kunstform Tanz. Kein Wunder also, daß der freie Tanz nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land erst mit Ende der 1970er Jahre wieder Fuß fassen konnte.

 

Phäaken auf abgründigen Reisen

 

Der Herr Karl und die Ibiza-Affäre (laut Heinz-Christian Strache am 18. Mai 2019 „a bsoffene Gschicht“) zeigen jenen österreichischen Hang zur Gefälligkeit des Allzumenschlichen und zu Hedonismus, der auch zum Branding dieses Touristenparadieses gehört. Als reizsteigernd für das österreichische Phäakentum wirkt seine eigene, balancierte Abgründigkeit bei gleichzeitiger Vermeidung unliebsamer Komplexität. Dahinter steht weniger der altösterreichische Zweifel am Neuen, sondern schlicht eine Scheu vor Komplikationen, gepaart mit verharmlosender Sympathie für das Destruktive.

 

So darf auch, wie Herr Karl darstellt, die Kasteiung ein gewisses Maß an Lüsternheit nicht unterschreiten, denn sie ist das Kostüm der Opferrolle, in die Österreicher gern schlüpfen, wenn ihnen Machtpositionen verwehrt bleiben. Österreich, das war einmal monarchisches Vaterland, dann ein kastriertes Kakanien, das sich die Prothese eines „Tausendjährigen Reichs“ einpflanzte, danach ein Opferreich, eine „Insel der Seligen“ und ein Euter des postmodernen Welttourismus, in dem aus „Kunst und Kultur“ Wertschöpfung und Umwegrentabilität gemolken wurden. [10]

 

Darin heischt bis heute das Finstere nach dem Glanz der Ehrbarkeit, es sorgt für Überfluß, wobei alle als Sensibilität getarnte Orientierungslosigkeit auch Stil haben muß, wenn sie zum Zweck des Distinktionsgewinns als Aktivum in der sozialen Buchhaltung geführt werden soll. Reale oder erfundene Negativa sind so vorzubringen, daß es mutig erscheint, über sie zu sprechen. Wer sich in Wien beweisen möchte, sollte wissen, daß es dafür erstens vorführbares Spezialwissen (eine „kleine“ Autorität) braucht, das zweitens in gespielter Bescheidenheit gerade so weit gehen darf, um es drittens originell in eine Konversation einfließen zu lassen, die viertens beeindruckt, aber fünftens kurzweilig und beherrschbar zu sein hat.

 

Zusammengefaßt: Die österreichische Kultur ist nicht analytisch und experimentell, sondern pragmatisch und anekdotisch strukturiert. Wer glaubt, diese Struktur unterlaufen zu müssen, wird nachdrücklich in Ruhe gelassen. Auch als patzige Besserwisserei interpretierbares Verhalten kann zu sozialer Ausgrenzung führen, die Nichteingliederung in einen anekdotisch-ironischen Insiderzirkel – Partei, Club, Clique – ebenfalls. Wer allerdings die Struktur unterstützt – auch unter dem Vorwand, sie zu geißeln – sowie zusätzlich als „charismatisch“ erkannt wird, begibt sich in Gefahr, zu einer kulturellen Autorität erklärt, am eigenen Geltungsbedürfnis aufgehängt und, wie etwa Robert Menasse, als Vorführmarionette bis zur Unkenntlichkeit abgenutzt zu werden.

 

Suchende Flucht bei laufenden Veränderungen

 

Sicherlich ist Österreich nicht mehr jene „Versuchsstation des Weltuntergangs“, [11] als die das Land im Sommer 1914 kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs von Karl Kraus erkannt wurde. Es sieht eher aus, als wäre man 106 Jahre später auf suchender Flucht vor den Dämonen in sich. Vor solchen, die nie geschlafen, sondern sich nur hin und wieder umkostümiert haben. Sie traten erst als Anton Rheinthaller (der erste Parteiobmann der FPÖ 1956–1958) auf, später als Alexander Götz und Jörg Haider, in letzter Zeit unter anderem als Heinz-Christian Strache, Herbert Kickl oder Norbert Hofer. Diese Rollen sind nicht die einzigen, die diese Dämonen auf kleinerer und zugleich größerer Bühne als jener des Ringstraßen-Burgtheaters spielen.

 

Etwas beunruhigend mutet an, daß bereits seit Jahrzehnten [12] (nach einer gewissen Überdosis an Thomas Bernhard und Claus Peymann) keine größere Publikation zum Thema der kulturellen Verfaßtheit in diesem Land erschienen ist. Dabei hat sich in dieser Zeit doch etliches verändert – sollte man meinen. Zumindest äußerlich. Aber was? Wie anders sind Österreich und seine Umwelt beispielsweise geworden, seit Christoph Schlingensief Bitte liebt Österreich! neben der Oper wieder abgebaut hat?

 

Der Wiener Regisseur Paul Poet (Ausländer raus! Schlingensiefs Container, 2002) stellte 2018 [13] fest, daß die Linke im Land es versäumt habe, sich nach dem Impuls des Schlingensief-Projekts mit dessen Offenlegungen „konstruktiv zu befassen und nicht nur sagt, daß es jetzt klar ist, was wir eh schon immer gewußt haben, sondern sich aktiv dagegen zur Wehr setzt – aber das hat man laufen lassen“. Daher seien die „Polarisierung und die Hetze Grundbestandteil unseres Staates“ geworden. 2018 herrschten, so Poet damals, unter den Kunstschaffenden „Existenzängste“, und es sei „keine entspannte Vorgehensweise möglich“. Die „klassischen Rezepturen“, die Menschen anzusprechen, „funktionieren nicht mehr“. Jene Rezeptur, die Schlingensief angewandt habe, „wird nicht mehr aufgenommen, es braucht etwas, das eine Erdung und eine Orientierung zuläßt“.

 

Praxis der Aufklärung durch Annäherung

 

Bei den Festwochen 2020 hätte das erwähnte Arte-Útil-Projekt von Tania Bruguera das Thema der Annahme von zugewanderten Mitgliedern einer Sozietät aufgreifen sollen. Mit dem Titel, Bitte liebt Österreich! – Eine Schule für Integration, wäre an Schlingensiefs Intervention gegen den xenophagen Dysfunktionalitätsraum der österreichischen Gesellschaft erinnert worden. Brugueras School of Integration (SOI) widerspiegelt einen markanten Unterschied zwischen der kritischen Kunst der Schlingensiefzeit und dem Artivismus der Gegenwart: an Stelle der Spekulation auf eine Didaktik der reinigenden Katharsis tritt eine Praxis der Aufklärung durch Annäherung. Das Konzept von SOI ist leicht nachzuvollziehen: Die Besucherınnen nehmen an Kursen teil, in denen Zugewanderte ihr spezielles Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben.

 

 

Das Einnehmende an diesem Projekt ist, daß es nicht in einem Utopos (Nichtort) verankert, sondern von einem sozialen „Topismus“ getragen ist. Brugueras Ansatz setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: erstens die Bevölkerungen der Aufnahmeländer können von den Aufgenommenen etwas lernen, und zweitens ist a. jede/r ein Mensch und b. „keiner besser als ein anderer“ (Bruguera). Damit bringt die Künstlerin genau jene „Erdung“ und „Orientierung“ ein, die sich Paul Poet vor zwei Jahren gewünscht hat.

 

SOI ist eine Initiative, die den sloganhaft geführten Diskurs um Xenophobie (Furcht vor dem Fremden) bereichert. Aber gegen Xenophagie (Überwindung des Fremden) [14] und Misoxenie (Fremdenhaß) als politisches Kalkül ist tatsächlich nur konkrete Politik gegen aufhetzende Propaganda wirksam. Hier genügt es nicht, sich einfach hinter die Affirmation von Artivismus und Aktivismus zurückzuziehen. Das xenophage Feld muß in seiner Ideologie und Soziologie verstanden werden, um es erfolgreich dekonstruieren zu können.

 

„Mich interessiert, verschiedene Systeme aufzufordern, gemeinsam zu tanzen.“

 

Christoph Schlingensief war daher auch nicht begeistert, als Teilnehmerınnen der wöchentlichen Donnerstagsdemonstration am vierten Tag von Bitte liebt Österreich! die Bewohner aus dem Container holten und die Transparente zerstörten: „Die Kinder der Revolution haben lustig getanzt und waren geschockt, als sie erfuhren, die Asylanten sind ja echt. Man glaubt, man reißt die Fahne des Feindes weg, und damit ist auch der Feind besiegt. Aber das ist nicht so.“ [15] Der Künstler kritisierte auch die Aktivistınnen: „Was ist das für ein Kunstverständnis zu glauben, die Kunst kommt raus, verändert die Welt, und dann ist alles gut oder schlecht. (…) Mich interessiert (…), verschiedene Systeme aufzufordern, gemeinsam zu tanzen.“ [16]

 

Dieser Tanz braucht einen Boden, einen Raum aus Wissen und Orientierung. Welche Systeme wirken wie, wann und wo? Welche Geschichte haben sie, und welcher Repräsentationen bedienen sie sich? Leider läßt sich derlei Wissen nicht so einfach von Spotify herunterstreamen. Ein bereits angeführter Spruch des Herrn Karl gilt auch für Popindustrie-Bewegte: „Ich war immer kritisch, i hab immer alles durchschaut.“ Yeah. Aber ein Verständnis dafür, warum Xenopolemik (verbale Ausländerfeindlichkeit) unterschiedlicher Provenienz und Xenoktonie (tätliche Ausländerfeindlichkeit) ineinander übergehen, kann trotzdem nicht mit ein paar Klicks ergoogelt werden.

 

Auch nicht das Abwägen differenzierender Argumente, wie etwa jenes, daß eine wichtige Ebene innerhalb gesellschaftlicher Systeme wohl eine „allgemeine Aggressivität, die sich ganz unterschiedliche Opfer sucht“ sei. Sobald „die öffentliche Meinung bestimmte Ausländer zu Sündenböcken für alles mögliche stilisiert, richtet sich diese Aggressivität eben genau auf diese Ausländer“. [17] Zudem ergibt sich, daß die Xenopolemik aus ideologisch fixierter Misoxenie nicht auf ein simples Schema sozialer Klassen („Modernisierungsverlierer“) reduziert werden kann, weil sie sie sich tatsächlich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht.

 

Warum die Politik nicht abschieben darf

 

Mit dieser Auseinandersetzung ist auch der Verweis von Tania Brugueras School of Integration auf den weitreichenden und leidenschaftlich umfehdeten Begriff „Bildung“ verbunden. In Wien wollte die Künstlerin sechzig verschiedene Kurse etwa zu Sprache, Musik, Handwerk, Politik, Recht, Ethik oder Geschichte abhalten lassen. „Wenn hier gelernt wird“, heißt es im Programmbuch der Festwochen, „entstehen Allianzen gegen etablierte Hierarchien von Wissen“, und zwar in einem „gemeinsamen Raum, von dem aus soziale Gerechtigkeit gefordert wird“. [18] Auch für diesen Zusammenhang gilt mit Bezug auf Paul Poet der Hinweis, daß praktizierende Politik die Schaffung solcher gemeinsamen Räume nicht in Richtung „Kunst und Kultur“ abschieben darf. Künstlerınnen können nicht mehr tun, als – wie Qualtinger mit Merz, Schlingensief und Bruguera – zu einem stärkeren Bewußtsein anzuregen. Wenn Realpolitikerınnen mit ihren Budgets und Organisationen sich weigern, diese Anregungen anzunehmen und konstruktiv weiterzuverarbeiten, wird das Problem weiter verschleppt.

 

Der hier allgemein formulierte Bezug auf „etablierte Hierarchien von Wissen“ bedarf einer Präzisierung. Die angesprochenen Hierarchien sind nur schwer zu verorten, weil der Zuwachs an Wissen sich in den beinahe sieben Jahrzehnten seit Gründung der Wiener Festwochen vervielfacht hat. An sich wäre das wunderbar, aber leider stellt sich heraus, daß der Umgang mit diesem Wissenszuwachs dessen Herausforderungen längst nicht mehr standhält. Als Reaktion auf diese Überforderung werden einerseits ideologisch kontaminierte und daher fruchtlose Debatten darüber abgehalten, welcher Art von Wissen welche Relevanz zugemessen werden soll – was einen Aspekt der angesprochenen Hierarchien ausmacht. Andererseits werden jene, die Wissen erarbeiten, mainstreamhaft zur Seite geschoben und durch populistische Taschenspielerınnen ersetzt.

 

Zu diesen gehören unter anderem netzaffine Distributorınnen von Esoterik, Verschwörungsmythen, Pseudophilosophien, Präastronautik, Holocaustleugnung oder anderer Geschichtsklitterung. Ebenso bringen die Wirtschaft, ihre Werbeindustrie und ihr Entertainmentmoloch jede Form von Wissenschaft auf breiter Basis in Bedrängnis. Innerhalb der Wissenschaften wachsen die traditionellen Schwachstellen an: durch via Internet und soziale Medien in Umlauf gebrachte Täuschung, Mißbrauch und Scharlatanerie. Das gilt für sogenannte „harte“ Wissenschaftszweige ebenso wie für „weiche“. Aktuell etwa verzeichnen gerade jene Meinungsströme enormen Zulauf, in denen Covid-19 heruntergespielt oder geleugnet wird. In diesem Sog gerät vor allem eventuell berechtigte und fundierte Kritik ins Hintertreffen.

 

Ein Land weiß, was es liebt

 

Evident ist, daß das von Guy Debord so genannte „Spektakel“ – der militärisch-industrielle Komplex mit seiner Kommunikationsdynamik – die Bevölkerungen mit „leeren Füll-Informationen“ vollstopft, die deren Wissenskapazitäten systematisch verzerren und zerstören. Während kontinuierlich, und im Zuge der Covid-19-Maßnahmen verstärkt, gefordert wird, in den Schulen mehr Mobiltelefone und Tabletcomputer einzusetzen, das Programmieren zu unterrichten (was vor allen die Möglichkeiten der PR für die digitale Industrie erweitern würde) oder allgemein verstärkt „Wirtschaft“ (zur Verdrängung anderer Gegenstände), geraten die Geistes- und Sozialwissenschaften unter Druck.

 

Die Bildungspolitik des Neoliberalismus trägt – in Österreich – eine liberale Maske. Ihr Inhalt aber ist auch hier totalitär. In dieser Ideologie geht es generell nicht um Bildung, sondern um Ausbildung und geistige Abrichtung auf die Akzeptanz ökonomischer Logiken. Auf dieser Ebene dienen Künstlerınnen und Akademikerınnen global bloß noch der Zerstreuung und dem Infoservice. In dem hitzigen neoliberalen Begriff der „Kreativität“ schmelzen „Kunst“ und „Kultur“ und werden in gewinnbringend erschließbare „Marken“ umgegossen. Welche Richtung dieser Kurs nach der auf die Pandemie folgenden Wirtschaftskrise nehmen wird, ist noch nicht abzusehen. Österreich wird sich wohl einen Teil seines hohen Lebensstandards bewahren können, auf den die Bevölkerung des Landes stolz ist. Ein „bissl Musi“ wird es weiterhin geben, zum Wohl der jungen, feschen Karlas und Karls, der Börsen und Kurse und des „life long löaning“ für die Arbeitsfreiheit der Zukunft.

Fußnoten:

  1. ^ https://www.operndorf-afrika.com/ (zuletzt eingesehen 23.5.2020).
  2. ^ https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/schlingensief-operndorf-burkina-faso-afrika-10-jahre-104.html (zuletzt eingesehen 23.5.2020).
  3. ^ Jeremy Bentham, Begründer der britischen Philosphie des Utilitarismus und Schöpfer von „Bentham’s Panopticon“, in dem unter anderem Michel Foucault eine schlüssige Metapher für die von ihm analysierte Disziplinargesellschaft fand, schrieb: „The utility of all these arts and sciences,—I speak both of those of amusement and curiosity,—the value which they possess, is exactly in proportion to the pleasure they yield. (…) Prejudice apart, the game of push-pin is of equal value with the arts and sciences of music and poetry. (…) Everybody can play at push-pin: poetry and music are relished only by a few. (…) Indeed, between poetry and truth there is a natural opposition: false morals, fictitious nature: the poet always stands in need of something false. (…) All the arts and sciences (…) are excellent substitutes for drunkenness, slander, and the love of gaming.“ (Bentham, Jeremy: The Rationale of Reward. London: Hunt 1825, S. 206f.)
  4. ^ https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/schlingensief-operndorf-burkina-faso-afrika-10-jahre-104.html (zuletzt eingesehen 23.5.2020).
  5. ^ Oscar Wilde ästhetisierte die im Thanatos eingebettete „Liebe“ 1897 in seiner Ballad of Reading Gaol mit diesen Worten: “Yet each man kills the thing he loves, / By each let this be heard, / Some do it with a bitter look, / Some with a flattering word, / The coward does it with a kiss, / The brave man with a sword! // Some kill their love when they are young, / And some when they are old; / Some strangle with the hands of Lust, / Some with the hands of Gold: / The kindest use a knife, because / The dead so soon grow cold. // Some love too little, some too long, / Some sell, and others buy; / Some do the deed with many tears, / And some without a sigh: / For each man kills the thing he loves, / Yet each man does not die.” (Wilde, Oscar: The Ballad of Reading Gaol. Portland Maine: Thomas B Mosher 1904, S. 5).
  6. ^ https://www.youtube.com/watch?v=nOtYk3TDHcQ (zuletzt eingesehen 24.5.2020).
  7. ^ https://de.wikipedia.org/wiki/Ibiza-Aff%C3%A4re (zuletzt eingesehen 24.5.2020).
  8. ^ https://www.youtube.com/watch?v=1N4p1qXFUTI (zuletzt eingesehen 24.5.2020); die folgenden Zitate sind teils nicht chronologisch wiedergegeben.
  9. ^ Gemeint sind vermutlich Heinrich Manlik: Das Strahlenmeer. Kleinste Dimensionen, größte Energien. Eine Einführung in die Atomphysik. Wien Universum, 1947, und James Jeans: Der Weltenraum und seine Rätsel. München: Paul List 1955.
  10. ^ In der ORF-Sendung „Kulturmontag“ am 18. Mai 2020 reagierte der Schriftsteller Paul Köhlmeier auf eine Debatte im Studio darüber, wie wichtig das österreichische Kulturschaffen für die Wirtschaft des Landes sei, mit der Erinnerung: „Die Kunst, die Kultur hat keinen Sinn außerhalb von ihr selbst.“ Die Diskutanten stimmten einhellig zu, aber sie betonten wenig später wieder die Bedeutung der Umwegrentabilität. Damit zeigte sich, wie tief die neoliberale Kulturmarkt-Ideologie bereits im Denken von Kunstschaffenden und Kulturverantwortlichen verankert ist.
  11. ^ Kraus, Karl: Die Fackel. Nr. 400-403; 10. Juli 1914, S. 46.
  12. ^ Immerhin wurde 2005 Erwin Ringels Buch Die österreichische Seele von 1984 neu aufgelegt.
  13. ^ Radio Orange, IG Kultur am 26.11.2018] https://cba.fro.at/389027 (zuletzt eingesehen 14.5.2020).
  14. ^ Otto, Wolf-Dieter: „Tischgespräche über das Fremde. Zum Problem der Xenophagie“. In: Albrecht, Corinna; Bogner, Andrea (Hg.): Tischgespräche. Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft. Bielefeld: Transcript, 2017. S. 116.
  15. ^ https://www.spiegel.de/geschichte/christoph-schlingensief-der-asylbewerber-container-in-wien-a-1065826.html#fotostrecke-6912527c-0001-0002-0000-000000132505 (zuletzt eingesehen 24.5.2020)
  16. ^ Ibidem.
  17. ^ Wahl, Klaus: „Fremdenfeindlichkeit: Von Affekten zu Aggressionen. Emotionale Sozialisation und Extremismus“. In: Dünkel, Frieder; Geng, Bernd (Hg.): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien. Gödesberg: Forum Verlag 1999, S. 188.
  18. ^ Programmbuch Wiener Festwochen 2020, S. 16.

 

(24.5.2020)