Hoffnung der Zwanziger

LETZTE CHANCE AUF EINE WENDE IN DER KLIMA- UND KULTURKRISE

Von Helmut Ploebst

 

Erster Jänner respektive Januar. Jetzt wird gern gegeigt, wie sehr gerade ein neues Jahrzehnt begonnen hat. Die meisten Medien umspielen ihre Leserınnenschaft mit Trost und geben, wie bereits in den vergangenen Jahren erprobt, reichlich Ratschläge dafür, wie sich die Bevölkerung besser fühlen sollte. Denn es darf um Merkurs Willen bloß keine Eintrübung der allgemeinen Stimmung geben: Bitte, liebe Leute, lasst euch die Kauflaune nicht verderben! Das funktioniert – die lieben Leute machen jeden Trend mit. Und sie werden immer gehässiger dabei.

 

Die vergangenen Zehnerjahre könnten als Dezennium wachsenden Unmuts in die Geschichte eingehen, der sich irgendwann in den Zwanzigern entladen haben wird. Die große Herausforderung gleich neben jener des Klimawandels ist, Wege zu finden, um diese mögliche Entladung abzuwenden. Klima- wie Kulturkrise werden unsere Leben künftig mit wachsender Intensität bestimmen. Beides befindet sich seit geraumer Zeit im Gange, sodaß niemand mehr – was wohl ein Vorteil ist – davon überrascht werden kann.

 

Neue Ansätze finden

 

Daher bestehen jetzt noch realistische Chancen, etlichen Fehlentwicklungen der Jahrzehnte seit den 1980ern anders zu begegnen als bisher. Also nicht mit Indifferenz, Narzißmus oder den Pessimismen angeblicher Alternativ-, Rat- und Orientierungslosigkeit, die ganz offensichtlich vor allem Ausdrucksformen von Weltflucht oder Passivität darstellen. Beides ist von außen induziert: Wenn Individuen oder Gesellschaften zunehmend gedrängt, gehetzt und gedemütigt werden wie seit vierzig Jahren durch das perfide, verführerische Ausbeutungssystem des bedauerlicherweise auch von linker Seite protegierten Neoliberalismus, dann reagieren Bevölkerungen zunehmend mit Verdrängung und innere Spannungen.

 

Nicht ohne Grund fallen die Krisen unserer natürlichen und kulturellen Lebensräume zusammen. Der mögliche Wandel von einer lebensfreundlichen zu einer lebensfeindlichen Umwelt und der sich abzeichnende Wandel von einer liberalen kulturellen Toleranz hin zu einem Hexenkessel, in dem nationalistisch, tribalistisch oder identitär generierte Feindbilder bereits zuvor Erreichtes wieder zerstören, sind direkte Folgen ein und derselben Globalisierungsdynamik.

 

Graswurzelbewegungen

 

Im Grunde ist es gut, daß das neoliberale System seit Beginn seiner ökonomischen und digitalen Revolution zu mächtig geworden ist, um es in militaristischem Furor zu kappen. Die verkorksten (k)alten Konzepte von politischen „Revolutionen“ haben während des gesamten 20. Jahrhunderts ohnehin in zahlreichen Varianten gezeigt, wie unbrauchbar sie sind und welche verheerenden Konsequenzen sie nach sich ziehen. Stattdessen scheint sich zu bestätigen, womit Graswurzelbewegungen auf vielen Ebenen bereits vor längerer Zeit begonnen haben: die Wirksamkeit von Veränderungspotentialen im Handeln jedes einzelnen Individuums, entweder für sich oder im Zusammenschluß mit Gleichgesinnten.

 

Graswurzelbewegungen bergen allerdings die Tendenz, sich in Haarspaltereien und Kleinlichkeiten zu verzetteln, also selbst tribalistische oder identitäre Züge anzunehmen. Das muss nicht so sein. Zusammenschlüsse, Kooperationen und kritische Betrachtungen größerer Zusammenhänge können hier lockernd und verbindend wirken. Voraussetzung dafür ist allerdings, sich aus den eigenen „Filterblasen“ zu bewegen sowie gesprächs- und lernbereit zu bleiben oder es wieder zu werden.

 

Gegen Spaltungen

 

Vielleicht gelingt es in diesen kommenden Zwanzigerjahren, die beiden großen Brocken Klima- und Kulturkrise fokussiert anzupacken und erst einmal alles Denken und alle Praxis danach auszurichten, unsere natürlichen Lebensräume erhalten zu helfen und gleichzeitig die Spaltungen unserer Gesellschaften wieder abzubauen. Das muß vor allem auch im Interesse all jener stehen, die sich „links“ von der politischen Mitte verorten. In diesem Bereich sind nun politisch Aktive herausgefordert, endlich wieder ein soziales Bewußtsein zu entwickeln,  und die vielen kulturell Aktiven müßten sich endlich von der US-amerikanischen, narzißtischen Gekränktheitsideologie entfernen, um nicht weiterhin unfreiwillig das rechtsextreme Spektrum in seiner Strategie der Erosion unserer Gesellschaften zu unterstützen.

 

Sollten die Oppositionen gegen Neoliberalismus und antiliberale Rechte es nicht schaffen, im doppelten Sinn – also in puncto Natur- und Kulturkrise – zusammen auf einen grünen Zweig zu kommen, werden die Trumps, Erdogans, Xi Jinpings, Orbáns, Putins und Bolsonaros zusammen mit Großkonzernen im jetzt angebrochenen Jahrzehnt die Weichen für die Zukunft stellen. Dem könnten grüne, liberale und linke Demokratınnen jeglicher Provenienz weltweit und aus allen sozialen Schichten jetzt noch entgegenarbeiten.

 

(1.1.2020)