Die Epidemie als Entr’acte

LICHTBLICK AUF EINE KRISE – IN KRITISCHER SELBSTBETRACHTUNG

Von Helmut Ploebst

Und jetzt einmal ein aufbauender Aspekt der Corona-Krise, denn die über die negativen Auswirkungen wird ohnehin überall gesprochen, geschrieben und debattiert. So wenig hilfreich wie innere Panik und geäußerter Pessimismus erscheinen jetzt künstliche Positivität, schönrednerischer Optimismus oder selbsttherapeutische Beschwichtigung. Ein Schritt ins Paradoxe scheint fürs erste mehr zu versprechen, etwa in Form einer Wendung in sich: Die gewonnene Zwangspause kann zu Reflexionen genützt werden, für die im hochtourigen Getriebe unserer wuchernden Gesellschaft, die von reaktionären, permissiven oder kulturellen Neoliberalismen überdüngt wird, keine Zeit geblieben ist.

 

Weitaus weniger virulent als „davor“ scheint in Zeiten der Ausgangsbeschränkung die Frage nach dem eigenen Auftritt als performativer Komplex aus Zeichen und Intensitäten in ständiger „Werbung für sich“. [1] Bereits vor der Zäsur Mitte März 2020 zutiefst fragwürdig geworden war die finstere Formel: „Wer bin ich?“ Das Verdunkelnde dieses Mantra [2] ist das dahinterstehende Verlangen nach Eindeutigkeit mit seinem egozentristischen Kern.

 

Anregung zur Spurensuche

 

Eine Wendung in sich [3] kann gewissermaßen das radikale Gegenteil sein, sofern sie mit Fragen nach den eigenen bisherigen Handlungs-, Denk- und Empfindungsmustern beginnt. Weder zur Selbstbestätigung noch zur Selbstzerfleischung, sondern aus Interesse [4] an sich selbst als Agens innerhalb der Gesellschaft. Hier geht es weniger um ein Entweder-Oder von „Wer bin ich“ versus „Wie handle ich“, sondern um den relationalen Fluß zwischen diesen beiden Fragen innerhalb sozialer und kultureller Systeme.

 

Wesentlich wichtiger als das Sortieren von Belegen zur Selbstaffirmation kann bei einer solchen Wendung in sich die Suche nach Spuren von und Beweisen für Fehlleistungen [5] sein. Dabei soll nicht ein Fetischismus des eigenen Versagens – die Größe des dort und da Gescheitertseins – abgefeiert, sondern dessen Gestalt samt Struktur betrachtet und untersucht werden. Nur dann wird die hier gemeinte Intention hinter dem Manöver einer Wendung in sich erkennbar: das Wecken eines nicht primär urteilenden Interesses an sich.

 

Eine neue Freiheit

 

Leicht ist das nicht. Doch jetzt, jäh gebremst und zum Teil isoliert von einer Epidemie [6], gewinnen alle eine Freiheit, die zuvor vielleicht nicht so leicht als solche zu erkennen war. Möglicherweise bietet sich jetzt die Gelegenheit, aus dem Gefängnis der Regelungen unserer wuchernden Gesellschaft zu treten – und dabei jene absurd gewordenen Kontrollmechanismen unter die Lupe zu nehmen, die dabei sind oder waren, alles Lebendige aus den Körpern der Bevölkerungen zu saugen und zu verwerten. Dabei geht oder ging es vor allem um ökonomische Verwertungen, aber auch – was viel schwerer zu erfassen ist – um ideologischen Vampirismus.

 

Weil der Diskurs um die Kontrollsysteme der ökonomischen Verwertung von Individuen ohnehin weit verbreitet ist, scheint es einladender zu sein, sich hier auf das Gefängnis zu konzentrieren, wie es ein ideologischer Vampirismus [7] baut. Dabei können im Spin einer Wendung in sich die Fragen auftauchen, ob und wie sehr man selbst als ideologischer Blutsauger aktiv war, wie viel von der eigenen Lebendigkeit durch diesen Vampirismus bereits verloren gegangen ist und wodurch das Abgesaugte bisher substituiert wurde.

 

Tanz der Vampire

 

An die klassischen und neu virulent gewordenen Beispiele für ideologischen Vampirismus – alle Arten von Nationalismen, Rassenideologien oder religiösen Systemen [8] – muß hier klarerweise nicht erinnert werden, wohl aber an die Schattenseiten dessen, was sich in den vergangenen Jahren als Opposition dagegen entwickelt hat. Schatten, die durch Mißbrauch oder Mißverstehen der Konzepte dieser Opposition entstanden sind und sich in Form von Sprechverboten, Instrumentalisierung der Sprache, Tribalisierung, Moralismus anstelle von ethischer Reflexion, Ausgrenzung und Hetze vor allem in „Sozialen“ Medien zeigen.

 

Die Tragik hinter diesen Spaltungsversuchen an der durchneoliberalisierten Gesellschaft liegt vor allem darin, daß „rechts“ und „links“ häufig nahezu idente Kommunikationsmethoden verwenden und daß dies vor allem rechtsradikale Interessen stärkt. Die Linke muß weiter daran arbeiten – auch dafür wäre Zeit in der gegenwärtigen Pause –, neue Denkmodelle und echte soziale Aktivität zu entwickeln. Ansonsten könnte der bisherige seichte Aktivismus durch Verbreitung von immer gleichen populistischen Parolen den Verdacht nähren, daß zumindest ein Teil der Linken bewußt an der Hochzüchtung des Rechtsradikalismus arbeitet, um endlich wieder einen Gegner zu haben, der ins alte Schema paßt.

 

Filterblase aus Klopapier

 

Eine Wendung in sich ist nur im Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen sinnvoll: Bin ich sicher, daß ich durch meine Handlungen bisher nicht eher mich selbst in meiner ach so richtigen „Haltung“ gestärkt habe als das politische Feld, das ich unterstützen wollte? Halte ich mich in einer zu engen Filterblase auf? Bewege ich mich in eingefahrenen Gewißheiten? Poste ich lieber auf der Raubtierplattform Facebook über die Rettung der Welt anstatt die alte Frau, die in der Wohnung über mir wohnt, zu fragen, ob ich für sie während der Epidemie Einkäufe erledigen soll?

 

Und siehe da, schon taucht die derzeitige Krise in anderem Licht wieder auf. Mit welchem Verhalten reagieren die Leute? Reflexhafte Hamsterkäufe widerspiegeln archaische Muster. In dieser Neigung zum Anhäufen von Vorräten fällt aktuell vor allem der international verbreitete Run auf Klopapier auf. Er könnte ein Indikator dafür sein, wie stark das Bedürfnis der Reinhaltung geworden ist. Dem entspricht das Hamstern von Mundmasken, von denen die meisten vor dem Virus nicht schützen. Dies wiederum entspricht auf der symbolischen Ebene haargenau den Reinheitspassionen des Moralismus: hygienisches Denken unter der Maske des Heiligen. In den USA werden zusätzlich Schußwaffen gehamstert. Wir sollten Trump ersuchen, das derzeitige Einreiseverbot für Europäer zu verlängern, bis in seinem Empire of Darkness ein Verbot von privatem Waffenbesitz durchgesetzt ist.

 

Abbau eines „goldenen“ Käfigs?

 

Die Pause wird einige Wochen dauern. Alle, die dazu imstande sind, können sie gut nutzen. Zum Beispiel für praktische Maßnahmen zur Überbrückung bisher angerichteter gesellschaftlicher Spaltungen oder zum Aufbau einer modifizerten Lebensweise, die es erlaubt, den engmaschigen „goldenen“ Käfig wieder loszuwerden, den die wuchernde Gesellschaft in den vergangenen Jahren über uns alle gestülpt hat. Denn der Prozeß einer Wendung in sich kann zeigen, wie jede/r selbst – auch innerhalb des kulturellen Neoliberalismus [9] – zu dieser Wucherung beigetragen hat.

 

Zur Erinnerung: Der lateinische Begriff für „wuchern“ (wie Pflanzen das können) ist „luxuriari“. In diese Erinnerung miteingeschlossen könnte sein, daß Luxus nicht weniger ein solcher ist, wenn er als selbstverständlich und „positiv“ angesehen wird. Die Wucherung selbstfahrender Autos und netzgesteuerter „Smart Homes“ etwa sollten wir uns nicht als selbstverständlichen „Fortschritt“ verkaufen lassen. Wendung in mich: Habe ich wirklich realisiert, daß dies eine nochmalige Verstärkung des „goldenen“ Käfigs bedeutet, eine systemische Quarantäne unter den Bedingungen eines vorgespiegelten technikprogressiven Normalfalls? Jetzt – in einem einzigartigen „Entr’acte“ [10] – haben wir die wunderbare Gelegenheit, uns das und ähnliches in Ruhe zu überlegen, bevor das System inmitten einer Wirtschaftskrise mit gewaltigem Aufwand und unter höchstem Einsatz von allen wieder hochgefahren wird.

Fußnoten:

  1. ^ Die Werbung für sich – als Hypertrophie der Sorge um sich (Foucault) – verlegt sich nun zwar zur Gänze aus dem Sozialraum in die sogenannten „Sozialen Medien“, aber ich als Nichtnutzer (Ich will auch jetzt kein „User“ sein!) derselben kann mir vorstellen, daß auch für Vielnutzer der Punkt kommen muß, an dem es genug ist.
  2. ^ Hier als konsumistische Schutzformel inmitten einer hyperkapitalistischen Dynamik, die kein Außen zuläßt, weil ihren Logiken zufolge alle gesellschaftlichen Vorgänge kalkulativ erfaßt werden müssen. Aus diesem Grund ist das Kunstwerk hinter die Figur seines Autors zurückgetreten: Die Person als Produkt ist leichter zu verpacken und zu vermarkten als ein Werk, das womöglich nicht gemäß den PR-Gesetzen der massenmedialen Distribution weiterverarbeitet werden kann.
  3. ^ Foucault zitiert Plutarch mit: „Die aber sich retten wollen, müssen in beständiger Sorge um sich selbst leben.“ (Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 64) Und er führt Senecas Argument an, man müsse, „um sich mit einem selbst zu befassen, von den andere[n] Beschäftigungen lassen“ (ibid.). Das Rezept von Senecas „se formare“ (ibid.) ist natürlich differenziert zu betrachten. Einerseits eventuell unter Berücksichtigung von Marc Aurels Empfehlung: „(…) laß die eitlen Hoffnungen fahren und hilf dir selber (…)“ (ibid. S. 65). Noch aufschlußreicher allerdings unter der Prämisse, die Foucault als Epiktets Auffassung vom Besonderen der menschlichen Vernunft zitiert: Diese vermöge „,sich selbst und alles andere zu betrachten‘“ (ibid.) Diese Fähigkeit schafft die für eine Wendung in sich, wie sie hier betrachtet wird, nötige Distanz.
  4. ^ Interesse im Sinn von „etwas wichtig nehmen“, hier gemeint als Abweichung vom Insichgehen durch das Einnehmen eines „Respektabstands“ von sich selbst. Ein Insichgehen im Sinn einer Versenkung läßt keinen Raum für eine Wendung, sondern vermittelt den Eindruck einer Aufforderung, sich – „wer bin ich?“ – selbst zu kannibalisieren. 
  5. ^ Üblicherweise verhindern gesellschaftlicher Anpassungsdruck und der Zwang, „richtig“ zu funktionieren, eine solche Suche. Daher werden Fehler nicht eingestanden, sondern generell überdeckt – vor anderen, aber auch vor sich selbst. Das schafft ein Milieu, in dem nicht nur die Erkenntnisbefriedigung in der Studie am Objekt ausbleibt, sondern sich Fehler „under cover“ zu wahren Monstren entwickeln können.
  6. ^ In dem aus dem Griechischen ins Lateinische gezogenen Begriff steckt (gr.) „δῆμος“ mit der heutigen Bedeutung von „Bevölkerung“, etwa eines Staates. Folglich ist eine (lat.) „epidemia“ im Gegensatz zur individuellen eine geteilte Krankheit: Ein Erreger teilt sich mit, wodurch ein Scheinparadoxon auftaucht – die freiwillige Trennung wird zum Akt des Gemeinsinns, Distanz beweist Nähe.
  7. ^ Ausschlaggebend ist tatsächlich die „erotische“ Komponente des Vampirismus – die Verführung durch ideologische Diskurse und charismatische Repräsentationsfiguren. Der vorherrschende permissiv populistische Neoliberalismus operiert vor allem mit „epidemischen“ Seduktionsstrategien, auf die die „affektiven Immunsysteme“ der globalen Bevölkerungen kaum Antworten haben – unter anderem, weil dieser Form der camouflierten Diktatur keine ernstzunehmende politische Opposition gegenübersteht.
  8. ^ Neu virulent geworden sind diese alten Ideologiestrukturen, wie vielseits diskutiert, durch die Globalisierung des Neoliberalismus. Siehe u.v.a. auch Stephen Metcalf auf Freitag.de: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/die-idee-die-die-welt-verschlang
  9. ^ Hier gemeint als sukzessive Umwandlung der Institutionen für Kunst in eine globalisierte Optimierungsmaschine kultureller Freizeitwirtschaft, die nicht nur einen homogenisierenden Kunstmarkt antreibt, sondern auch die Berechtigung des Künstlerseins vorstanzt: nicht allein im finanzinvestorischen Sinn, sondern unter anderem etwa auch hinsichtlich der Verwertung künstlerischer Aktivität als kostengünstigen Ersatz für Arbeiten an der Gemeinschaft, die eigentlich von sozialen Institutionen des Staats geleistet werden müßten.
  10. ^ In Anspielung auf René Clairs gleichnamigen Zwischenakt-Film in dem Tanzstück Relâche (1924) des Ballet Suédois unter Rolf de Maré: Die Pause als intrusive Diskursoperation auf einer anderen medialen Ebene als jener des Davor und Danach.

 

(21. 3. 2020)