Cancelling Russia?

DAS IST NUR DER ANFANG

Von Vasyl Cherepanyn

Dieser Text ist eine übersetzte und gekürzte Fassung von Vasyl Cherepanyns Essay Cancelling Russia? That’s just the start, der am 11. Mai 2022 auf L’Internationale Online publiziert wurde. 

 

Kyiv Maidan, 20. Februar 2014 | Bulent Kilic/AFP via Getty Images

 

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Die brutale Invasion der Ukraine durch Russland hat eine Vielzahl von Absagen im Kontext von kulturellen Institutionen, Festivals und internationalen Kunstevents nach sich gezogen. Institutionelle Kooperationen mit ihren kollektiven und individuellen russischen Kolleg*innen wurden zunehmend abgesagt oder abgelehnt. Dem wiederum folgte eine heftige Debatte, in der viele argumentieren, dass eine große russische Kultur nichts mit dem Krieg zu tun habe („es ist Putin, nicht Puschkin“[1]), dass all dies Putin in die Hände spielen könnte[2], und dass der Westen Wege finden muss, „gute russische“[3] Dissident*innen zu schützen, die sich im Exil befinden.

 

Ausgrenzungskultur

Diese Kontroverse hat jedoch als komfortabler Ausweg für den Westen hergehalten, um wesentlich schwierigere und weitreichendere Herausforderungen zu vermeiden, denen wir uns in der aktuellen Lage gegenübersehen. Ausgrenzungskultur im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine, begleitet von Sanktionen und Embargos auf ökonomischer Ebene, ist nur ein sanfter Auftakt für die schwerwiegende Arbeit, die vor uns liegt. Erstens beruht Kultur hier nicht auf dem metaphysischen Himmelreich einstiger Größe, sondern ist Teil eines ideologischen Staatsapparats im Verbund mit Propagandamaschinerie, der Konstruktion historischer Mythen und dem erzieherischen Kampf um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Deshalb kann sie nicht vorgeben, unschuldig zu sein, da sie in der Gegenwart zu politischen Zwecken gebraucht und missbraucht wird. Wie die amerikanische Polittheoretikerin Nancy Fraser präzise formuliert,[4] kann man nicht Gerechtigkeit beanspruchen, bis die Ungerechtigkeit überwunden ist. Das trifft nicht nur auf die Politik zu, sondern auch auf die Kultur.

 

Die geschichtliche Provenzialisierung der Ukraine

Internationale Absagen der Kooperation mit Russland sind Teil des dekolonialen Freiheitskampfes der Ukraine. In vergangenen Jahrhunderten wurde die ukrainische Kultur nicht nur in den imperialen Schatten Russlands gestellt, sondern einfach ihres Erbes und ihrer modernen Faktizität beraubt und mit Gewalt provinzialisiert. All dies geschah mit Akzeptanz und Unterstützung des Westens, der heutzutage einem dekolonialen Trend folgt, aber Angelegenheiten außerhalb seiner Blase gegenüber ebenso blind ist wie vor Kurzem noch bezüglich seiner eigenen Vergangenheit. Jetzt werden ukrainische Museen und Kulturstätten vom russischen Militär, der Vorhut des russischen Kulturkolonialismus, geplündert und absichtlich zerstört.

 

Die politische Komfortzone des Westens

Nach Russlands Invasion am 24. Februar äußerte sich keine einzige russische Institution gegen den Krieg oder benannte gar den Aggressor: einige wenige erklärten im typischen Neusprech die Stillegung ihrer Arbeit wegen „der menschlichen und politischen Tragödie, die sich in der Ukraine abspielt“[5]. Viele westliche Institutionen, die seit Jahren ihr ‚radikales politisches Engagement‘ proklamieren, haben sich einfach auf einen White-Cube-Radikalismus und selbstzufriedene Humanität verlegt – zu ängstlich, politisch außerhalb ihrer Komfortzone zu agieren und ihr Publikum und die Autoritäten aufzurütteln, indem sie versuchen, den Prozess der Entscheidungsfindung in der Causa Ukraine zu beeinflussen.

 

Protestkultur und Reaktion

Kultur als institutionelles Feld ist Teil der sozialen Beziehungen, die politischen Protest einschließen. Im 21. Jahrhundert gab es in der Ukraine zwei erfolgreiche Maidan-Revolutionen, deren letzte vor acht Jahren eine lokale Manifestation der globalen Welle von Erhebungen und Besetzungen öffentlicher Plätze war und es schaffte, einen bluthungrigen und autoritären Präsidenten zu stürzen. Am letzten Tag des Maidan 2014 war der zentrale Platz von Kyiv nach der Konfrontation mit der schwerbewaffneten Polizei nahezu vollständig niedergebrannt und sah buchstäblich aus wie Malewitschs „Schwarzes Quadrat“. Es war eine Sichtbarmachung des revolutionären Sieges in der Ukraine.

 

Die Gegenrevolution kam von der russischen Seite wenige Tage später in Form der militärischen Besetzung der Krim und der Kriegshandlungen im Donbas. Es war immer das Alpha und Omega (oder vielmehr das Z[6]) von Putins Regime, jede Art von Präzedenz zu verhindern, dass ein Diktator vom Volk gestürzt werde. Genau deshalb hat der Führer des Kremls jegliche Opposition zu Hause zerschlagen und sich beeilt, „Maidans“ in Syrien oder Kasachstan zu eliminieren. Jetzt trachtet er danach, das Land des Maidan zu eliminieren, indem er seine Menschen physisch vernichtet.

 

Faschismus als gescheiterte Revolution

Dem berühmten Ausspruch des deutschen Philosophen Walter Benjamin zufolge steckt hinter jedem Faschismus eine gescheiterte Revolution. Nach der manipulierten Präsidentenwahl von 2020 in Belarus gelang es den Menschen dort, im großen Maßstab zu protestieren, doch der Widerstand erwies sich als unzureichend. Ein Wechsel des Regimes kann nicht einfach erreicht werden, indem man auf den Straßen marschiert und die Schuhe auszieht, wenn man auf Bänken steht.[7] In der Folge annektierte Russland Belarus und die Marionettenregierung in Minsk schloss sich dem Angriffskrieg des Kremls an, indem es sein Territorium und seine Einrichtungen für Angriffe der Artillerie und die Bombardierung des ukrainischen Landes zur Verfügung stellte. Das moderne Russland ist das Land einer unterdrückten Revolution; seine Gesellschaft hat nicht die Gelegenheit ergriffen, en masse zu revoltieren. Nach der groß angelegten russischen Invasion in die Ukraine gab es etwa 14.000[8] individuelle Proteste, verteilt über ein Land mit über 140 Millionen Einwohnern. Dies waren ohne Zweifel mutige Akte des Widerspruchs: gleichwohl aus Verzweiflung gesetzt, da es offenbar zu spät war, den Status quo noch zu ändern. Viel zahlreicher als die Proteste waren jedoch die endlosen Schlangen vor Uniqlo, IKEA und McDonald’s, die im Begriff waren, sich aus Russland zurückzuziehen.

 

Kreml-Politik

Die faschistische[9] Militärdiktatur im Kreml entstand nicht erst gestern aus heiterem Himmel, sondern brauchte Jahre, um sich zu etablieren und den Punkt ohne Wiederkehr zu erreichen. Die einzige Person in Russland, die Putins Regime in realpolitischer Praxis öffentlich abschwört, ist Alexei Navalny, dessen Namen der Russische Präsident nicht einmal aussprechen kann[10] und der dafür eingesperrt wurde, dass er einen Giftanschlag mit dem Nervengift Novichok[11] überlebte. Sein entfernter ukrainischer Verwandter Ilya Navalny wurde unlängst von den russischen Soldaten[12] in Bucha nahe Kyiv nur wegen seines Nachnamens erschossen. Dies ist die Kurzfassung der Kreml-Politik.

 

Gleichungen, die nicht aufgehen

Wenn der Westen sein Spiel spielt, bei dem er gleichermaßen seine Unterstützung für die Ukrainer*innen deklariert, die dem russischen Militär Widerstand leisten, wie auch für die russischen Dissident*innen, die sich Putins Herrschaft widersetzen, wird daraus nicht nur eine herabwürdigende Gleichung zwischen dem Massaker an Ukrainer*innen durch die russische Armee und der Bedrängnis russischer Zivilist*innen: der Westen vermeidet es damit auch, seine eigene Positionalität zu hinterfragen. Es ist durchaus symptomatisch, wie schnell der ukrainische Appell, eine Flugverbotszone einzurichten, praktisch zur Utopie wurde. Heute dürfen wir nicht einmal mehr daran denken, dass der Westen mit all seinen Mitteln und Fähigkeiten genügend Mut aufbringen könnte, zur Verhinderung weiterer Gewalttaten einzuschreiten. Wir kennen natürlich das Argument „keine Einmischung der NATO“ sehr gut, aber wie wirkt sich diese Trägheit, sich hinter der europäischen Mauer zu verstecken und das Unerträgliche mitanzusehen, auf den Zustand der Demokratie an sich aus? Welche Art von demokratischer Gesellschaft haben wir, wenn die berüchtigte „rote Linie“ offenbar gar nicht existiert, da der kontinuierliche Zyklus von Kriegskatastrophen immer ungenügend unerträglich erscheint, um sie direkt zu stoppen?

 

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Der gesamt Essay kann hier gelesen werden.

Fußnoten:

  1. ^ https://www.pen-deutschland.de/de/2022/03/06/the-enemy-is-putin-not-pushkin/
  2. ^ https://www.washingtonpost.com/outlook/2022/03/11/russian-artists-canceled-putin-gergiev-netrebko/
  3. ^ https://www.npr.org/2022/04/27/1095062649/the-good-russians?t=1652259356622/
  4. ^ Nancy Fraser, Sobre la justícia / On Justice, Breus No. 57, Barcelona 2012.
  5. ^ https://garagemca.org/en/news/2022-02-26-announcement-from-garage-in-the-light-of-current-events/
  6. ^ https://www.project-syndicate.org/commentary/putin-worldview-defined-by-and-against-the-west-by-vasyl-cherepanyn-2022-04/
  7. ^ https://twitter.com/bfreetheatre/status/1294730963742797829/
  8. ^ https://www.aljazeera.com/news/2022/3/13/russia-ukraine-war-protesters-arrested/
  9. ^ https://www.politico.com/news/magazine/2022/03/14/lets-call-putin-fascist-autocrat-00016982/ 
  10. ^ https://www.theguardian.com/world/2020/sep/03/this-gentleman-alexei-navalny-the-name-putin-dares-not-speak/
  11. ^ https://edition.cnn.com/2020/09/02/europe/alexey-navalny-novichok-intl/index.html/
  12. ^ https://www.bild.de/politik/ausland/politik-inland/illja-nawalny-hingerichtet-weil-er-den-falschen-namen-hatte-79794854.bild.html#fromWall/