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Der Körper vor dem Körper

DIE ZWEIFACHE VERWIRKLICHUNG VON TÄNZERN IN EINER VERSCHIEBUNG DER LEKTÜRE

Von Helmut Ploebst

„Mein Körper ist das genaue Gegenteil einer Utopie", [1] behauptete Michel Foucault 1966 in einem Radiovortrag unter dem Titel Der utopische Körper – aber nur, um wenig später zu ergänzen: „Um Utopie zu sein, brauche ich nur Körper zu sein." [2] Er unterschied damit seinen „corpus quo", also das, was sein Körper war, von einem noch nicht erreichten Körperseins-Zustand: Foucault hielt seinen Körper für das Gegenteil eines Körpers. Dieser schöne Widerspruch ist ein großer Verführer. Wer sich ihm detaillierter hingeben will, sollte diesen kurzen Text unbedingt lesen.

 

Durch die folgenden Überlegungen jedoch, die sich mit den „erlesenen" Körpern vor allem von Tänzern auseinandersetzen, driften zwei ganz andere Fragen. Erstens: Wie liest sich der Körper als Widerspruch zu sich selbst in einen Versuch über die Verstellungen von Tänzerkörpern ein? Und zweitens: Was heißt „Lektüre" in einem solchen Versuch?

 

Zwei fatale Arten der Lektüre

 

Widersprüche und Oppositionen sind immer Garanten für Spannungen, das zeigt sich täglich im politischen Leben. Für dessen Analyse ist die Größe des Winkels von Interesse, der entsteht, wenn ein Objekt von zwei verschiedenen Positionen aus betrachtet wird. Slavoj Žižek erörtert Vorgang und Folge dieser Blickverschiebung wunderbar unter dem passenden geometrischen Begriff „Parallaxe". [3] Richten wir unseren Blick also auf einen weiteren Widerspruch:

Eine fatale Art der Lektüre ist die „wortgetreue". Die „buchstäbliche Auslegung" eines Textkörpers bewirkt meist die Verengung seiner Inhalte und Zusammenhänge auf ein vorgefaßtes Ziel hin. Dabei verkehrt sie sich in ihr Gegenteil. Die Tätigkeit der Lektüre schrumpft zum nutzorientierten Handeln: alle Zusammenhänge im Text, die dem feststehenden Nutzen nicht entsprechen, werden ausgefiltert, um die Performance des Ziels - das zumeist ein neuer Text oder ein Sprechakt ist - zu steigern, dessen Karosserie unter Umständen eine aggressive Maschine birgt.

 

Eine weitere fatale Art der Lektüre ist die „zerstreuende". Die „relativierende Auslegung" eines Textkörpers bewirkt meist eine Zerfaserung seiner Inhalte und Zusammenhänge im kraftlosen Raum der Beliebigkeit. Dabei verkehrt sie sich in ihr Gegenteil. Die Tätigkeit der Lektüre schrumpft zu einem selbstreferentiellen Handeln: alle Zusammenhänge außerhalb dieses Lesens werden ausgefiltert, um die Performance der Lektüre und der „Lecture Machine" (Jon McKenzie) [4] zu verstärken, unter deren exklusiver Karosserie unter Umständen nur heiße Luft weht.

Die Lektüre eines der beiden vorangehenden Absätze, die zusammen eine symmetrische Opposition, „wortgetreu" und „zerstreuend", enthalten, wird manche Lesenden zu mehr Widerspruch oder Zustimmung anregen als die des jeweils anderen. Auch die Symmetrie dieser Gegensätze könnte Mißtrauen erwecken. Und die Verbindung der beiden Absätze – „eine weitere" im Sinn von „und" – mag das Verlangen nach einer dritten Möglichkeit der Lektüre aufwerfen.

 

Symmetrische Oppositionen können sich auch in einzelnen Begriffen verbergen wie etwa im englischen „enlightenment", das je nach Zusammenhang und Klein- oder Großschreibung entweder „Erleuchtung" oder „Aufklärung" bedeutet. Dabei widerspricht die erste Bedeutung in ihrer esoterischen Verankerung der zweiten in ihrer rationalistischen Umgrenzung. Ein Begriff also gilt für zwei grundsätzlich verschiedene Prozesse innerhalb unterschiedlicher Kulturen. In der Reflexion dieser Opposition auf einer ersten Ebene kann sich eine Position oder Denkrichtung für eine kontextuelle Verbindung aussprechen (Aufklärung als Erleuchtung oder umgekehrt), eine andere für eine strikte Trennung gemäß dem erwähnten Widerspruch. Eine dritte kann meinen: Erleuchtung anstatt Aufklärung, eine vierte das Gegenteil vorschlagen, eine fünfte auf beides verzichten.

 

„Aufklärung“ oder „Erleuchtung“

 

Jede dieser Richtungen liefert offensichtlich Diskurse, die in Form von Sprachgebilden in bestimmte Kommunikationsströmungen eingebunden sind. Auf einer zweiten Ebene nun können diese Diskurse, Gebilde und Strömungen ihrerseits von verschiedenen Positionen aus beobachtet werden: Welche Sprachgebilde werden geformt, und was sagt die Beschaffenheit der Kommunikationsströmungen über die einzelnen Diskurse aus, die mit „Aufklärung" und bzw. oder „Erleuchtung" operieren? Auf dieser Ebene verzieht sich die ursprüngliche Symmetrie. Aus einer gewissen Beobachterdistanz stellen sich so die Asymmetrien in der Lektüre vermeintlich klarer Oppositionen bereits sehr deutlich dar.

 

Nun kann sich aber eine beobachtende Instanz wohl definieren, aber, wie Niklas Luhmann feststellte, nicht selbst observieren. Ein schönes Zeugnis dieser Unmöglichkeit enthält Philip K. Dicks Science-fiction-Roman A Scanner Darkly (dt.: Der dunkle Schirm), in dem sich der Protagonist selbst überwachen muß. Im Lauf seiner Überwachung wird er immer mehr zum Teil des von ihm Beobachteten, und die autonome Position des Observierenden löst sich auf.

 

Jede lesende Figur befindet sich in einer ähnlichen Situation: Sie beobachtet, verfolgt einen Text und wird währenddessen zum Teil dieses Texts. Dabei zerfällt die eindeutige Position des Lesenden, und der Text beginnt, seinen Leser zu lesen. Mehr oder genauer noch: Die Lektüre selbst ist bereits Ergebnis dieses Gelesenwerdens des Lesenden. Denn ein Lesender liest, was durch ihn liest: die Lesemaschine in ihm und um ihn herum. Was für den Autor gilt, hat also auch beim Lesenden Gültigkeit. Verborgen hinter dem „Tod" des Autors (Roland Barthes) und der daraus postulierbaren „Erleuchtung" des Publikums stehen der „Tod" des Lesers und die „Erleuchtung" der Kommunikationssysteme, die durch beide hindurch wirken.

 

Ein Buch verzehrt seine Leser

 

Die symmetrische Opposition fordert also in ihren Beobachtern Denkrichtungen heraus, deren Strukturen einem weiteren Beobachter, nämlich dem dieser Strukturen, keineswegs als symmetrisch erscheinen. An diesem Punkt gerät der Beobachter selbst in Asymmetrie: Er verzerrt das von ihm Observierte, also Gelesene, und wird zugleich von diesem verzerrt, wenn nicht gar verzehrt. Aus dieser parallaktischen Perspektive gesehen, kehrt sich eine alte Metapher um: Das Buch „verschlingt" somit seine Leser.

 

Der „Tod" des Lesers steht also für seine Auflösung und „Erleuchtung" mit und in den Strömungen des Ozeans der Kommunikation beim Lesen und Gelesenwerden. Der durch den lesenden Text und das asymmetrische Observierte verzehrte und verzerrte Leser respektive Beobachter erfährt eine referentielle Verkörperlichung. Luhmann schreibt: „Die Gesellschaft besteht nicht aus menschlichen Körpern und Gehirnen. Sie ist schlicht ein Netzwerk aus Kommunikationen" [5] und „der ganze Leib ist überhaupt nicht Teil des sozialen Systems" [6] . In der Luhmannschen Theorie ist der Körper selbst kein System, sondern bloß an verschiedenen Systemtypen beteiligt, an sozialen, biologischen und an psychischen. Erst (vom Körper vorgetragene) menschliche Handlungen lassen soziale Systeme entstehen. Und erst in der Beobachtung derselben – und hier als Referenzen – tauchen Personen (und Körper) wieder auf.

 

Aus der Sicht einer Tänzerin und eines Tänzers muß die Vorstellung, der Körper wäre kein System, absurd erscheinen. Beschäftigen sie sich doch durch ihre gesamte Entwicklung hin ganz zentral mit der Erforschung des konkreten, materiellen Körpers – als System von zusammenwirkenden Organen und Operationen. Die Absurdität entspringt hier allerdings der Tatsache, daß der subjektiv erfahrene Körper die Sicht auf Systeme, wie sie sich aus der Perspektive der Kommunikationstheorie darstellen, verstellt. Daß der empfundene Körper sich vor den referentiellen schiebt. Diese Opposition hat konkrete Ursachen, denn Tänzer lernen ihre Körper zu lesen, bevor sie sie schreiben und zur Lektüre freigeben können. Dieses Lesenlernen des Körpers erfolgt über ein spezialisiertes Kommunikationssystem: das Einlesen von vorformulierten Lese- und Schreibmethoden durch hochdifferenzierte Körper- und Bewegungstechniken in die Tänzer.

 

Wie der Körper sich selbst liest

 

Nun lernt aber, genetisch vorprogrammiert und damit „automatisch", jeder Körper im Zuge seiner Entwicklung schon, sich selbst zu lesen – stets im Zusammenhang mit einem sozialen System. Der einzelne Körper ist im Sinn des chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana Teil eines autopoietischen (d.i. „sich selbst schaffenden") Systems. Luhmann hat den Begriff der Autopoiesis von Maturana übernommen, also aus den Zusammenhängen biologischer Systeme auf soziale übertragen. Ein sich selbst lesender Körper ist von anderen sich selbst lesenden Körpern zwar unterscheidbar, aber doch abhängig von den ihn umgebenden Strukturen. Diese Abhängigkeit liest sich mit in den einzelnen Körper ein – als Element des autopoietischen Systems.

 

In diesen Prozeß greift nun bei Tänzern ein zweites Lesen ein, das spezifisch auf ein Ziel hin gerichtet ist: die Performanz des Körpers innerhalb eines ästhetischen Subsystems der gesellschaftlichen Kommunikation. Ihre Körper lernen sich selbst anders zu lesen, nämlich im Hinblick auf ihre Präsentation in einem spezifischen kulturellen Ritual. Dort sollen sie gelesen werden und in dieser Situation als Beobachtete ihre Körper in das soziale System einspeisen.

 

Diese Lektüre ist aber nur noch etwa im spezialisierten Ballett alter Schule eine „buchstäbliche" im Sinn der eingangs angeführten symmetrischen Opposition. Zeitgenössische Tänzerinnen und Tänzer lesen ihre Körper meist über das Ziel der Performanz hinaus – über eingelesene Techniken, die nicht dem Tanz untergeordnet sind (wie Feldenkrais, Pilates oder Yoga), sondern die primäre Lektüre noch einmal herausfordern. Zudem erweitern Tänzer diese Lektüren zunehmend durch Rezeption von Kunstwerken und Literaturen, die über die Reflexion von Anatomie und Soziologie des Körpers hinausgehen. Diese „zerstreuende" Lektüre führt aber keineswegs zu einer Selbstreferetialität eines Lesens um des Lesens willen, sondern zu jener Erweiterung des „Tanzfeldes", wie sie sich gegenwärtig [2006, Anm. d. A.] darstellt.

 

Der „Tod“ des Tänzers

 

Es ist also ein sich primär automatisch lesender Körper, der sich selbst mittels eines intentionserzeugten sekundären und erweiternden Lesesystems bei dieser Lektüre beobachtet im Hinblick auf seine Aufgabe, Metatexte zu generieren, die dann „Tänze" genannt werden können. Das erinnert wieder an Philip K. Dicks Geheimagenten in A Scanner Darkly, der sich selbst als Junkie observiert. Wobei ironischerweise der Geheimagent scheitert und als verbleibender Junkie in eine Entwöhnungsanstalt flüchtet.

 

Ein „Autor" für das primär Gelesene existiert nicht, denn dieses ist durch das biologische System bereits ab der Zeugung eines Körpers eingeschrieben und wird durch ein soziales System redigiert. Das (von Tänzern) sekundär Gelesene wird, wie gesagt, durch ein soziales Subsystem eingelesen und hat nur dieses als „Autor". Hier ist der sich selbst lesende Körper ganz selbstverständlich Teil seines Texts und wird so von diesem gelesen – im Fall des Tänzer auf zwei Ebenen. Der Körper verzerrt sich primär und wird durch den Tanz sekundär verschlungen. Das markiert den „Tod" des Tänzers und seine Auflösung im ästhetischen, sozialen System. In Der utopische Körper beobachtete Michel Foucault dieses Gelöstsein so: „Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen. Der Körper selbst ist nirgendwo." [7]

 

In demselben ästhetischen, sozialen System befinden sich auch die Beobachter und Leser des Tänzers – im Prozeß des Verschlungenwerdens während ihrer Lektüre, ihrer Beobachtungen, die nach Luhmann die Körper von Tänzern erst verwirklichen. Diese Körper erfahren damit eine zweite Verwirklichung, die erste hat bereits in der vorhin beschriebenen doppelten Eigenlektüre stattgefunden. Foucault drückt das ein wenig poetischer aus: „Unter den Händen des Anderen, die über den Körper gleiten, beginnen alle unsichtbaren Teile des Körpers zu existieren." [8]

 

Wie Vaclav Nijinski unsterblich wurde

 

In diesem Gelesenwerden liest aber auch der über den Tanz vermittelte „Text" sein Auditorium. Während dieses Verschlungenwerdens ist es ohne Bedeutung, ob sich im Rezeptionsprozeß ein „erfolgreiches" oder „nicht erfolgreiches" Lesen im Sinn der Autoren vollzieht. Denn im Prozeß des Lesens selbst entsteht ein „Text", der weder den Autoren noch ihren verschiedenen Publika allein zugeschrieben werden kann. Dieser „Text" enthält die Arbeits- und Verarbeitungsmuster der Kommunikationsströme, in die das jeweilige Teilsystem einfließt. Erst diese Muster lassen das in diesem Enthaltene im Sinn einer „Kunst der Gesellschaft" erkennbar werden.

 

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Vaclav Nijinskis Körper etwa kann nicht mehr „unmittelbar" gelesen werden. Als Referenzkörper ist er in jenen Kommunikationsströmen, die pathetisch auch „kollektives Gedächtnis" genannt werden, trotzdem noch vorhanden, weil ihre Muster sich weiterschreiben, indem man sich bis heute in bestimmten Zusammenhängen auf ihn bezieht. Unabhängig von dem „Autor" Nijinski, der als biologische Entität ja nicht mehr existiert. Nijinskis Körper hatte sich schon früh in einem Text aufgelöst, der ihn bis heute schreibt. Die Ironie in diesem Prozeß: Gerade der „Tod" des Tänzers macht ihn auch nach seinem biologischen Ableben „unsterblich". Und dabei ist nicht zu übersehen, daß der Text Nijinski alle, die ihn fortschreiben, weiterliest.

 

Fußnoten:

[1] Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt am Main 2005, S. 25.

[2] Ibidem, S. 30.

[3] vgl. Slavoj Zizek, Parallaxe, Frankfurt am Main 2006

[4] vgl. Jon McKenzie, perform or else. From Discipline to Performance, London/New York 2001.

[5] Niklas Luhmann, „Kommunikationsweisen und Gesellschaft“, in: Werner Rammert / Gotthard Bechmann (Hg.), Technik und Gesellschaft. Jahrbuch 5, Frankfurt am Main/New York, 1989, S. 12.

[6] Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2002, S. 255.

[7] Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt/Main 2005, S. 34.

[8] Ibidem, S. 35.

 

(11.10.2006; bearbeitet am 15.2.2022)