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Der Traum als Wirklichkeit

DIE MATRJOSCHKA DER PROJEKTIONEN IN CHRISTOPHER NOLANS NEUEM FILM "INCEPTION"

Von Helmut Ploebst

In seiner großen Rede vom 28. August 1963 sagte Martin Luther King in Washington D.C.: „I say to you today, my friends, so even though we face the difficulties of today and tomorrow, I still have a dream.“ [1] Der am 4. April 1968 ermordete schwarze Bürgerrechtler wollte den Amerikanern einen einfachen Gedanken einpflanzen: Alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft oder Hautfarbe sind gleich. Er sprach von einem Ziel, das vor ihm auch die Vereinten Nationen mit ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und alle im Sinne der Gleichberechtigung operierende Kommunikation nicht erreicht hatten.

Der Traum des Bürgerrechtlers bleibt auch in der Gegenwart größtenteils unerfüllt. [2] Die Funktionen, die die Beständigkeit von rassistischen Ressentiments bewirken, werden bis heute kaum verstanden. Vor allem deshalb, weil sie Teile verschiedener komplexer und zusammenwirkender Systeme sind, die offenbar bisher noch nicht ausreichend erforscht werden konnten. [3]

Martin Luther Kings Traum ist eine Utopie. Der Traum ist, wie die Utopie, ein mehrdeutiger Begriff mit sub- sowie metasprachlichen Zusammenhängen und Verankerungen, die sich darin bündeln, daß der „Traum“ im Sinn eines linguistischen Operators als Alterität zur „Wirklichkeit“ – ebenfalls im Sinn eines linguistischen Operators – erscheint. Das Kommunikationssystem Sprache liefert in seinem allgemeingebräuchlichen Teil auch hier eine Darstellung des Status populärer Erkenntnis. Und es dient zugleich als Trägersystem für spezielle Erkenntnis, die entweder ein Stadium der Verallgemeinerung erreicht oder nicht.

Vereinfachende Dichotomie

In der deutschen Sprache hat der Begriff „Traum“ mehrere Bedeutungen. Darunter fallen erstens die Projektionsleistungen des Gehirns im Schlaf, zweitens die durchaus wachen Projektionen einer individuellen oder kollektiven Sehnsucht, etwa einer Utopie wie die von Martin Luther King, oder, drittens, von außen einprojizierte Kommunikationen über den Film (aber ebenso über das TV, das Theater, Videospiele, Sportspektakel, Tanz, bildende Kunst und so weiter). Die Sprache liefert für das letztere ein schlüssiges Indiz, wenn sie etwa von der „Traumfabrik“ Hollywood spricht.

Die populäre Sprache stellt die Dichotomie zwischen Traum und Wirklichkeit her, weil sie mit Vereinfachungen arbeitet, die in diesem Fall von der Beschaffenheit des menschlichen Wahrnehmungssystems ablenkt. Wirklich ist nur, was sich in diesem Wahrnehmungssystem – das ausschließlich mit Projektionen operiert – als realitätsvermittelnde Projektion realisiert (Halluzinationen und Wahnvorstellungen eingeschlossen). Die Verarbeitung der Realisierung ist auf Stabilität ausgerichtet, aber alles andere als statisch. Daher markieren die Parallaxen in den verschiedenen in das projektive Perzeptionssystem eingespiegelten Projektionen das Maß für jeweils neue Wirklichkeitseinschätzungen. Es ist also nicht nur das Wiedererkannte, das zur Erkenntnis führt, wie oft behauptet wird, sondern die mehr oder weniger große Verschiebung von im Ähnlichen wirksamen Verschiedenheiten. Diese Parallaxe motiviert den innovativen und frustriert den konservativen Geist.

Der Geist ist das Gespenst im „Kino“ der Wahrnehmung. Im Kino als Massenmedium stellt sich darüber hinaus die Wahrnehmung als Metapher dar, sozusagen als Gespenst des Geistes. Das macht dieses Medium so erfolgreich, [4] und deswegen ist Christopher Nolans neuer Film Inception über die Utopie von der Systemik des Traums spannend. Wie aber funktioniert die Metapher des Kinos? Über den Umweg der Leinwand im „Lichtspieltheater“ wird der Film in die Wahrnehmung des Publikums projiziert. Im Wahrnehmungssystem wird das Wahrgenommene über die Sinnrezeptoren in das zuvor beschriebene verarbeitende Verarbeitungssystem eingespeist, das selbst projektiv ist: eine aktive, intelligente, lernende, reflektierende und prozessierende „Leinwand“, die noch dazu mit ihrem Projektor identisch ist. Diese gespenstische Identität nennen wir Geist.

Kryptogramme im Wörterbuch

Das ist relativ klar. Abenteuerlich im besten Sinn wird dieses Modell aber erst, wenn unser Wissen darüber dazugedacht wird, daß das wahrnehmende Subjekt die Auswahl und Verarbeitung von eingespiegelten Projektionen nur zu einem geringen Teil kontrolliert. Dieses Wissen ist selbst ein Komplex aus Projektionen und verschafft noch keine Überwindung dieser weitgehenden Unkontrolliertheit. So stellt sich das Wissen als eine Vorführung dar. Als Übersetzung. Und die gespenstische Sprache des Unbewußten ist dem Geist noch nicht übersetzt.

Pointiert formuliert, projiziert das Kino die Sprache des sendenden Unbewußten in die Sprache des empfangenden Unbewußten über die Wörterbücher des Bewußten, in denen die Begriffe des Unbewußten als Kryptogramme geistern. Ein doppeltes Aufschrecken ist die Folge: das Ach der Projektion und das Weh der unkontrollierten Übersetzung generieren ein sogenanntes Erlebnis. Eine Bewegung, die als Bewegtsein empfunden wird und in den Träumen tanzt, während das Bewußte ruht. Dieser Tanz der Projektionen ist eine Funktion, die den Menschen verstört wie seine eigene Geburt und der Tod im Allgemeinen.

In der Kunst finden die Krytogramme zu Formen, die den Tanz der Projektionen in Modellen, also den Kunstwerken, wiedergeben und erfahrbar machen. Das Erlebnis von Kunst ist die Erfahrung der unmittelbaren Übersetzung. Die kontrollierte Lektüre und Analyse bedeutet den Versuch, das Bewußtsein an dieser emotionalen Übersetzungserfahrung teilhaben zu lassen. So gesehen kann die literarische Form des Erzählfilms eine als Emotionsabfuhr getarnte Denkhilfe darstellen. Nolans Inception kommt dem als Metapher für die Interdependenz zwischen Realität und Projektion und deren Verwechselbarkeit im menschlichen Wahrnehmungsverarbeitungssystem vereinfachend und plastisch nahe.

Ein Konzern spricht über Konzerne

Nolan (u.a. Memento, 2000; Insomnia, 2002; Batman Begins, 2005; The Dark Knight, 2008) greift, wenn er in seinem aktuellen Film über den Traum abhandelt, nicht sofort auf die großen Denkmodelle aus der Psychoanalyse zurück, sondern baut zuerst ein utopisches Modell, dessen emotionalisierende Schale die Angst vor der Möglichkeit bildet, daß von bestimmten Interessensträgern geheime Gedanken aus einem Menschen hervorgeholt werden könnten. Bezeichnenderweise für unsere Gegenwart geht es dabei um Wirtschaftsspionage, um einen Krieg der Konzerne – und nicht etwa um Spionage zwischen Staaten im Machtkampf nationaler oder ideologischer Zeichensysteme. [5]

Inception ist ein Warner Bros.-Produkt, also das Erzeugnis eines Konzerns, und für ein breites, internationales und auf Spektakel konditioniertes Publikum gedacht. Damit ist klar, daß der Film aus einer Innensicht des Kriegs der Konzerne heraus operiert. Er ist also eine Funktion dessen, was er darstellt. Nolans und Warners Kalkül geht auf. Der Film gehörte bereits sechs Wochen nach seiner Premiere zu den hundert bis dato erfolgreichsten Filmen.

Die Figur des Protagonisten Dominic Cobb (Leonardo di Caprio) hatte sich, so das Liebesdrama im Krimidrama als Plot im Plot, mit seiner Frau Mal (Marion Cotillard) die Welt ihrer Träume im Sinn einer Utopie geschaffen – auf der Ebene des als reale Strategie genutzten gemeinsamen Träumens im Sinn der Projektionsleistung des Gehirns. Die beiden Figuren existierten auf zwei parallelen Ebenen: jener der gelebten Wirklichkeit und jener der selbstgeschaffenen Traumwelt. Das Projekt scheitert an Eigenmächtigkeiten des Paars, genau dort, wo sie einander zu beeinflussen trachteten. Mal verwechselt aufgrund einer Manipulation Dominics die Realitätsebenen und bezahlt dies mit ihrem Leben.

Der Alptraum Liebe

Dominic, der aus dem Stehlen von geheimen Gedanken im Auftrag eines sinistren Unternehmens ein lukratives Geschäft gemacht hat, bezahlt seinen Fehler zweifach: Er wird wegen Mordes an seiner Frau gesucht, und er versucht, Mal in seiner Traumrealität zu konservieren. Hier nun ist Sigmund Freud mit seinem Modell von Ich, Über-Ich und Unbewußtem als grundlegende Hilfskonstruktion klar präsent.

Die tragische Lovestory ist aber nicht nur ein Gimmick für die Filmkonsumenten, sondern auch eine Funktion im Narrativ: als reproduktionsbiologischer und kulturdynamisch überhöhter „Systemfehler“ in der auf Gelingen gerichteten Konstruktion von bellizistischen Plänen. Das Konzept der romantischen Liebe als Ideologie gewordener Traum von der Überwindung bloß vermehrungstechnischer Arterhaltung im Soziotop ist im Film als der Alptraum dargestellt, den vor allem auch die westliche Kultur produziert hat: der oder die Andere im Vertrag gegenseitigen Besitzes auf Lebenszeit. Eine glückliche oder tragische Rückversicherung gegenüber der realen Einsamkeit des ins fatalerweise endliche Leben geworfenen Subjekts.

Das ist klassischer Stoff, wieder einmal neu erzählt. Denn Dominics letzter, ultimativer Auftrag ist das Einbringen eines Trojaners in ein Machtsystem im Auftrag eines anderen Machtsystems. Ein Trojaner bedeutet auf der Ebene digitaler Kommunikationssysteme das Einschleusen einer Störung in ein gegnerisches Areal – mit bewußtem Bezug auf das berühmte trojanische Pferd aus der griechischen Mythoshistorie, die ja reich ist an infektiösen Liebesgeschichten.

Ariadne als Engel

Der klassischen griechischen Literatur entlehnt ist die zweite, zugleich die wichtigere Frauenfigur in Inception: Ariadne (Ellen Page). Sie ist die eigentliche Heldin des Films, eine Figur ohne Biografie, eine nur aus ihren Handlungen konstruierte Präsenz und in diesem Sinn das Über-Ich des Protagonisten, das als engelhafte Lolita das Anti zu Nabokovs fataler Nymphe darstellt: reine Intelligenz und ideale Menschlichkeit, unkompliziert als Symbol für den rettenden Gedanken in Verbindung zwischen Plan und Chaos positioniert.

Ariadne wird als Architektin zur Inszenierung der Kulissen für die Traumkonstruktionen angeheuert, sie entdeckt Dominics Schwachstellen, und sie begleitet ihn bis in den Orkus seines inneren Konflikts. Sie ist die Jüngste im Team, das ein nie zuvor eingegangenes Wagnis unternimmt, und sie hat den Faden in der Hand, der aus dem Labyrinth der Handlung führen könnte. Oder, anders formuiert, aus der Projektionen erzeugenden Architektin des Umraums wird die Choreografin wider den Zerfall der infizierten Organisation des Protagonisten. Ariadne ist so auch ein wenig als Alter Ego des labyrinthbauenden Regisseurs dargestellt.

Dieser schafft es wiederum, die Komplexität seiner Erzählung einem Massenpublikum als nachvollziehbares Konstrukt vorzuführen. Es geht von einer Realitätsbasis in den Traum im Traum. Und von dort in eine weitere und in eine dritte Traumebene und von da wiederum in eine letzte, die gefährlichste: in die sanfte Vorhölle des Limbus. Das Gegenstück zum Purgatorium, das Fegefeuer, wo die Seelen sich einnisten, die unverschuldet in den Abgrund geraten sind.

„Ich improvisiere!“

Die Projektion in der Projektion, die Matrjoschka der Ein-Bildungen ist das Grundkonzept der Informationsgesellschaften seit Anbeginn aller Kulturen. Was als maximale Verwirrung in der gegenwärtigen Mediokratie angesehen wird, trägt aber die Instumente in sich, aus der platonischen Höhle zum Realen zu finden oder im Labyrinth der Vorspiegelungen ein Bild von der Wirklichkeit zu erhalten. Auf dem Höhepunkt des Konflikts in Inception ruft Ariadne: „Ich improvisiere!“ Sie operiert – wie der Regisseur auch – mit maximalen Verkürzungen, mit Intuition. Dem größtmöglichen systemischen Risiko also, wenn alles Gewußte sich auf einen bestimmten Punkt konzentriert und eine Handlung generiert.

Der Schluss des Films überrascht, weil er genau diesem Prinzip folgt: dem offenen Ausgang der Improvisation in der Krise des großen Plans. Und er überrascht auch wieder nicht, weil es eben nicht um das Narrativ geht, sondern um die Organisation der Dynamiken im Gebrauch der Matrjoschka der Einbildung. Oder um die Vielschichtigkeit der Konstruktion von Erkenntnis und ihrem Potenzial des Scheiterns.

Daran hängt ein fundamentaler Ansatz von Präferenzen, die zwischen Katastrophe oder Problemlösung entscheiden. Ein, wie wir in letzter Konsequenz zugeben müssen, seit ältesten Zeiten ungelöst gebliebener Konflikt im globalen Soziotop. Der Regisseur schafft es, mit einem einfachen, dramatisch aufbereiteten Modell allgemein verständlich zu kommunizieren, daß Träume und Projektionen auf allen Ebenen die menschliche Auffassung von Wirklichkeit gestalten.

In der Figur der Ariadne versucht Nolan weiters zu zeigen, daß bei aller Komplexität von ineinandergreifenden Systemen eine Orientierung möglich ist. Vor allem dann, wenn die Systeme – sei es intuitiv oder rational oder in Wechselwirkung von beidem – verstanden werden und wenn sich dieses Verstehen nicht selbst genügt, sondern zu einem ethischen Handeln führt, wie es eben für Martin Luther King charakteristisch war.


Fußnoten:
[1] Siehe unter anderem: http://www.usconstitution.net/dream.html
[2] Siehe der Umgang der Amerikaner mit ihrem Präsidenten Barack Obama, die absurde Debatte um die Moschee nahe Ground Zero in New York und die Migrationspolitik nicht nur der USA, sondern auch in Europa: Frankreichs Umgang mit den Roma, Österreichs jenseitige Abschiebungspolitik und Ungarns abstruser Rechtsruck.
[3] Dazu braucht es die entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen; solange rassistische Ressentiments und dagegen gesetzte moralistische Schutzmechanismen das Kommunikationsfeld bestimmen, bleibt dieser Diskursbereich ein „Kriegsgebiet“ von Polemiken.
[4] Das Kino ist dem Schlaftraum ähnlicher als das Theater, in dem das Publikum Zeuge ist und kein Träumer.
[5] Exkurs: Die Machtsysteme Konzern und Staat führen sich selbst als Konkurrenten um die stärkere Performance vor. Eine Kernaussage bei Inception ist, der Konzern habe so großen Einfluss auf den Staat, daß der Anruf eines Konzernbosses genügt, um das Rechtssystem eines Staates außer Kraft zu setzen.


(13.9.2010)