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The Zimmer @ TQW 2010 SCORES#1

CORPUS UND SEINE GÄSTE IN DER WIENER WESTBAHNSTRASSE

Von Jack Hauser, Sabina Holzer und Helmut Ploebst

 

Populärkulturelle Hieroglyphe
The Zimmer. Ein Raum, der ein Hotelzimmer hätte sein können. Die Idee von diesem Raum erfährt eine kleine Verschiebung, und schon findet sich corpus - The Zimmer im Künstlerapartment des Tanzquartier Wien wieder. Westbahnstraße 21, 2. Stock, Tür Nummer 9. The Zimmer ist Gast des TQW-Formats SCORES#1: touché mit dem Untertitel „Künstlerisch-theoretischer Parcours an den Grenzen zur Berührung im Tanz“.

Hier ist corpus zu Hause: „An den Grenzen zu...“ Und weil corpus sich unter anderem an den Grenzen zwischen Bildung und Performance von Diskursen bewegt, dort also, wo das Berührende im Tanz angetastet und in Begrifflichkeiten entführt wird, erschien The Zimmer, das im Februar 2009 bei der Choreographic Platform Austria des steirischen herbstes erstmals eingerichtet worden ist, als der bewegendste Vorschlag dafür, eine Durchmischung von „touchés“ herzustellen.

Die gängigen Formate zur „Diskursproduktion“ setzen sich aus der Erzeugung und Rahmung von performativen Settings zusammen, die frontale Impulseinheiten (meist Vorträge, Panels, Lectures, Lecture-Performances) aneinanderreihen, in denen AutorInnen ihre Auditorien mit Ausführungen beschenken. Die Auditorien lenken ihre Aufmerksamkeit auf diese Ausführungen beziehungsweise lassen sich in moderierten Diskussionen auf das Vorgetragene ein. Hier sind die Rollenverteilungen und ihre hierarchische Ordnung klar, und post festum kann an der Bar noch ein bisschen zwanglos geplaudert werden.

In The Zimmer wird diese erprobte Praxis über ihre Grenzen hinausgeschoben, über die Barriere des Bar-Tresens geworfen und ihre Close-Up-Reflexion wird aus den eindeutig konnotierten Räumen eines Veranstaltungsorts für Kunst abgesiedelt. Übersiedelt in eine Atmosphäre der Alltäglichkeit, des Gastseins. In ein Hotelzimmer also oder nun eben in ein Apartment, in dem üblicherweise Gäste des Tanzquartier Wien - KünstlerInnen und TheoretikerInnen - eine Weile wohnen.

Der „Vortrag“ des corpusKollektivs besteht aus einer möglichst minimalen Gestaltung des Orts, der Kommunikation mit der gastgebenden Institution und der Herstellung von Verbindungen zu deren Format. The Zimmer in Wien wurde vom Tanzquartier und von corpus angekündigt. Eine fiktive Figur diente als Bildmetapher zur Kommunikation des Projekts: KinesDaisy. Eine transferierte populärkulturelle Hieroglyphe mit der Bedeutung „Tanz“ unter den Präfixen Disney, Daisy Duck und Diva.

Blumen, Getränke, Aschenbecher und Sitzgelegenheiten wurden organisiert. Und Möglichkeiten zur eventuellen Beeinflussung des Abends besprochen. Der stärkste Einfluss aber sollte von den beiden Arbeiten kommen, die vor der Öffnung des corpus-Zimmers im TQW zu erleben waren: Barbara Kraus’ „What my friends Pippi and Robin...“ und Jefta van Dinthers „Kneeding“.

 

Kommentar 1 (früh): „Das ist ja eine Party!“


The Zimmer ist ein nicht moderiertes oder geführtes Diskursformat, in das sich KünstlerInnen, die Mitglieder des corpusKollektivs und andere BesucherInnen aufeinander einlassen, ohne für dieses Aufeinandereinlassen eine Anleitung zu erhalten. The Zimmer ist auch kein Party-Format: auf triggernde Strategeme für Partystimmung wird verzichtet. Alle Gäste in The Zimmer sind Teile der Installation-Lounge-Diskursstätte (wobei auf das Vokabel Diskurs in den Ankündigungen verzichtet wurde) kommen auf ihre Art unaufbereitet zusammen und entwickeln mit ihrem Verhalten genau das, wozu sie bereit sind. So entsteht eine Situation, in der keine/r der Anwesenden etwas „Falsches“, zuviel oder zuwenig tun kann.

Das ist keine Nettigkeit, sondern ein situatives Experiment, das von den Gästen gestaltet, erlebt und beobachtet wird. Daraus entstand eine Spannung, die sich durch den gesamten Ablauf der Nacht im Zimmer zog. Erwartungen des Versorgtwerdens oder des bloßen Beiwohnens (etwa einer Lesung oder Performance) zerstreuten sich. Die Musik bestand aus der Durchmischung der Stimmen, der Tanz aus den Kommunikationen zwischen den Gästen untereinander und mit den Gastgebern, die wechselseitigen Berührungen kamen durch die Inhalte der Gespräche und die verschiedenen Formen des Sicheinanderzuwendens zustande.

Zwischen 22 Uhr und fünf Uhr früh bildete sich ein Geflecht an in verschiedenen Konstellationen von Menschen generierten Inhalten, die sich an künstlerischen Inhalten und Produktionsbedingungen, politischen Situationen und Ereignissen sowie an der Kommunikation von persönlichen Erfahrungen festmachten, also genau an jenen Eckpunkten, die zeitgenössische Kunstproduktion und -rezeption ausmachen. Wie fühlte sich Barbara Kraus nach ihrer Aufführung, was bewegte Radek Hewelt an dem Flugzeugabsturz in Smolensk, wie organisiert eSeL seine künstlerisch-mediale Existenz, wo verortet Anity Kaya ihr Projekt im_flieger neu und warum fühlt sich Akemi Takeya in Wien und in Japan gleichermaßen fremd. Wie war Jefta van Dinthers Arbeit aus tänzerischer Sicht zu verstehen, und wie wurde sie aus der Sicht einer Theaterperformerin wie Lena Wicke gelesen? Wie ist das Verhältnis von KünstlerInnen zu Institutionen, was passiert nun mit corpus? Was passiert dem aktuellen Wiener Kulturstadtrat nach den Wiener Wahlen im Oktober? Ist der Vulkanausbruch auf Island ein Thema für Verschwörungstheoretiker? Warum wird nicht aus Disneys Lustige Taschenbücher gelesen? Was befindet sich in KinesDaisys Tasche?

 

Kommentar 2 (viel später): „Wir dachten, hier geht voll die Fete ab!“


The Zimmer trägt Strukturelemente des historischen „Salons“ in sich und nutzt deren Potenziale, ohne sich auf das elitäre Gehabe der bürgerlichen Salonromantik aus dem 19. Jahrhundert einzulassen. Die Choreographic Platform Austria und das Tanzquartier haben sich auf The Zimmer eingelassen, ohne veranstalterischen Erwartungsdruck zu entwickeln, weil von beiden verstanden wurde, dass sich hier künstlerische und diskursive Praxis unter politischen Bedingungen abspielt, die den Möglichkeitsraum für Auseinandersetzungen mit dem Gesellschaftlichen in der Kunst deritualisieren und entgrenzen.

 

Helmut Ploebst

 


Stimmengewirr

1. In den Diskurs, den ich heute zu halten habe, und in die Diskurse, die ich vielleicht durch die Jahre hindurch hier werde halten müssen, hätte ich mich gerne verstohlen eingeschlichen. Anstatt das Wort zu ergreifen, wäre ich lieber von ihm umgarnt worden, um jedes Anfangs enthoben zu sein. Ich hätte gewünscht, während meines Sprechens eine Stimme ohne Namen zu vernehmen, die mir immer schon voraus war: ich wäre dann zufrieden gewesen, an ihre Worte anzuschließen, sie fortzusetzen, mich in ihren Fugen unbemerkt einzunisten, gleichsam, als hätte sie mir ein Zeichen gegeben, in dem sie für einen Augenblick aussetzte. Dann gäbe es kein Anfangen. Anstatt Urheber des Diskurses zu sein, wäre ich im Zufall seines Ablaufs nur eine winzige Lücke und vielleicht sein Ende. [1]

2. Reflexion und Diskurs könnte im kinästhetischen Sinn die Eigenwahrnehmung der Gedanken sein: touché.

3. Resonanzen zwischen Körper und Sinn: touché.
Es ist fast unmöglich, dieses französische Wort zu übersetzen.
Seiner offensichtlichen Herkunft von „toucher“ (berühren) entsprechend, müsste es eigentlich „Berührung“ heißen, wenn die französische Sprache dafür nicht im Allgemeinen das Wort „contact“ bevorzugen würde (bzw. im Spezielleren die Substantivierung „le toucher“ für bestimmte Qualitäten des Berührens oder „l'attouchement“ für zärtliche Liebkosungen und sexuelle Berührungen). Dennoch behält auch „touché“ eine Vielzahl von Anklängen an verschiedene „Berührungen“: Es kann „Pinselstrich“ bedeuten, die Tasten eines Klaviers oder das Griffbrett eines Saiteninstruments bezeichnen; daher rührt auch die Möglichkeit seiner figurativen Verwendung im Sinne von „Tonfall“, „Note“ oder „Anstrich“ (so wie man sagt, etwas könne eine heitere oder traurige Note, einen heiteren oder traurigen Anstrich haben; im Deutschen wird dafür heute verstärkt das englische „Touch“ verwendet). „Touche“ bezeichnet aber auch die Tasten einer Schreibmaschine oder eines Computers - auch das verwandte deutsche Wort „Tusche“ stellt übrigens einen direkten Bezug zur Tätigkeit des Schreibens her. Schließlich kann „touche“ einen Stich beim Fechten meinen, oder aber das Anbeißen eines Fisches - davon abgeleitet heißt dann etwa die Wendung „faire une touche“: „jemandes Gefallen auf sich ziehen“, „eine Eroberung machen“. [2]

4. Zusammenhang von Raum und Körper in der phänomenologischen Soziologie entsteht aus der Annahme, dass der Raum ohne Körper gar nicht erfahrbar wäre. „Mein Körper“, so schreibt Schütz in Anschluss an Merleau-Ponty, ist nicht nur ein Gegenstand im Raum, sondern die Bedingung für alle meine Erfahrungen der räumlichen Gliederung der Lebenswelt. In jeder Situation wirkt mein Körper als ein Koordinatenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorne. [3]

5. Möglichkeitsausdehnung, nach Gaston Bachelard in „Poetik des Raumes“ die  Überlagerung des Imaginären mit der Geometrie, des Innen mit dem Aussen, das sich Öffnende und sich Schließende der Sprache.

Sprechen: das kommunikative Handeln und das strategische Handeln.
Das strategische Handeln verhält sich gegenüber dem kommunikativen Handeln parasitär.

Ein offener Raum: Komm ohne Anmeldung, so wie du willst.

Eine Einladung zu einem Aufenthalt ohne Enthaltsamkeit. Was nicht gleichbedeutend ist mit: Party. Keine Setzung ist zu erfüllen, keine Strategie muss vollzogen werden.
Angebot einer Zusammenkunft, Möglichkeit für Gespräche und diskursive Plaudereien.
Einladung in The Zimmer: funktionaler und informeller Raum.

6. Als Zimmer wird ein Raum bezeichnet, der einen von Wänden Boden und Decke umschlossenen Teil einer Wohnung oder eines Gebäudes, insbesondere eines Wohngebäudes bildet und mindestens an die 10 m² groß ist und ein Fenster besitzt. Nicht als Zimmer bezeichnet werden in der Regel die Räume, die ausdrücklich nicht Wohnzwecken dienen, wie der Abstellraum, Garagen, Stallungen oder Nebenräume wie Hausflure, Liftschächte, und Ähnliches. Auf Schiffen nennt man Räume Kabinen oder Kajüten. Ein Zimmer betritt man durch eine Tür. Oberirdische Zimmer besitzen meist Fenster, die zur Belichtung und zur Belüftung dienen. [4]

7. Die zentrale Metaphern des „eigenen Zimmers“ nach Virginia Woolf's „A Room of One’s Own“ (1929):
- ein eigener Raum innerhalb des Hauses im Sinne von Privatbesitz; materielle Unabhängigkeit,
- persönliche Privatsphäre; geistige Unabhängigkeit,
- die Seele,
- ein eigener diskursiver Raum in der Geschichte; das Recht auf einen Anteil am Feld der Kulturproduktion.

8. Stimmengewirr: ... dieses Video von der Wohnung ... und sie hat sich am Boden bewegt und Geräusche von sich gegeben und der Mann wusste gar nicht wo er hinschauen soll ... Berührung durch Sprache ... Berührung durch körperliche Bewegung ... Talkshow ...  non-verbale Kommunikation ... das Emotionale entsteht durch den Körper. Auch der Gesichtsausdruck entsteht durch die körperliche Bewegung. ... Auflösung der Bilder, fliessen der Bilder ... es tut gut solche Männerkörper zu sehen. Sich morphende Männerkörper, nicht repräsentative Männerkörper ... das Patriarchat liegt in den letzten Zuckungen ... Ich fühle mich wohl in einer Umgebung, in der Menschen sich bewegen ... Könnte ich noch ein Bier haben, bitte ... wie wird es weitergehen mit der Subvention von Kunst in Wien ... verschiedene Formen, zusammenzuarbeiten. Die Möglichkeit des Neinsagens ... eine Einladung impliziert Verantwortung ... Der Unterschied zwischen  prozessualem Zusammenarbeiten und dem Experimentieren, um ein Produkt zu finden ... das gute Leben ... das zur Verfügung stellen von Ressourcen ...

 

Sabina Holzer

Fussnoten:
[1] Michel Foucault: Inauguralvorlesung am Collège de France, erschienen unter dem Titel „Die Ordnung des Diskurses“, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1977, S.5.
[2] http://www2.wuk.at/sonnenschein/docutouche.htm
[3] Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S 280.
[4] „Zimmer“ aus Wikipedia


zu begreifen; zu berühren

das bereitstellen eines zimmers um
corpus als magazin/halle/raum zu begreifen; tatsächlich zu berühren
das palavern als informellen diskurs vorzuschlagen
das formlose in einer form zu finden, in einem gefäss zu fassen und in einem vehikel durch die zeit zu schicken
das rauchen als eine annäherung an das nichts zu betrachten
den einfluss der aufenthaltsdauer auf nähe und erkenntnis wahrzunehmen

das bereitstellen eines zimmers als philosophisches experiment und nicht als soziales


Jack Hauser
 
Noch einmal (mit 4 Fotos von eSeL)

 

eSeL_corpus_tqw-touche_039 KinesDaisy
zu begreifen; zu berühren Populärkulturelle Hieroglyphe
eSeL_corpus_tqw-touche_028 eSeL_corpus_tqw-touche_032
Kommentar 1: „Das ist ja eine Party! Kommentar 2: „Wir dachten, hier geht voll die Fete ab!“
eSeL_corpus_tqw-touche_042 ZimmererSiegel
Stimmengewirr Gezimmert. Printmediales Nanodrama

 

 


Gezimmert. Printmediales Nanodrama

„Tanz der Organe von 17.6. – 21.6. im Waldviertel. Weitere Infos: www.somatic-movement.at“ Kleinanzeige, Falter, 21.4.2010
„Es steht viel auf dem Spiel.“ Christine Lemke-Matwey, Die Zeit, 22.4.2010
„Irgendwas muss man ja tun. Und ich tue, was ich kann.“ Robert Menasse, Die Presse/Spectrum, 24.4.2010
„...es wäre zumindest ein Anfang.“ Christoph Winder, Der Standard/Album, 24.4.2010
„Kaum war ich in der Nacht heimzukriegen!“ Hermes Phettberg, Falter, 21.4.2010

(28.4.2010)