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History II: Allan Kaprows "18 Happenings in 6 Parts" Redone

Die 1959 in der von Kaprow mitgegründeten New Yorker Reuben Gallery ur- und zugleich letztaufgeführte Arbeit war nicht nur die terminologische Geburtsstation des „Happening", sondern ein wichtiger Schritt in Richtung Neuorientierung einiger alter Kunstgenres. Sie ist ein räumliches, bildnerisches, choreografisches und akustisches Konstrukt, in dem das Publikum mit „organisiert" wird und nach Plan Platzwechsel vollziehen muß. Damit ist dieses Happening aber auch Vorläufer des heute in verschiedenen Formen etablierten künstlerischen oder kuratorischen Performance-Parcours, in dem die Besucher innerhalb einer Architektur von Aufführungsort zu Aufführungsort wandern. Zu den beeindruckendsten Parcours der vergangenen zehn Jahre gehörten auf der künstlerischen Seite Meg Stuarts Aufführungen des Projekts „Highway 101" und auf der kuratorischen Hortensia Völckers' „Wahlverwandtschaften" im Rahmen der Wiener Festwochen 1999.

Ausweitung der Ge-Stelle 

Wenn es heißt, Kaprows Aktionen seien „noch kein Theater oder aber keines mehr", dann bezeichnet dies genau die sich ständig erweiternde Leerstelle des „Theaters", innerhalb derer Choreografie und Performance eine neue Form definieren. Aus der Dynamik von Kaprows Setzung und ihren Folgen erweitern sich die seit bald einem Jahrhundert immer mobileren „Ge-Stelle" der Gattungen. In dieser allmählichen Expansion wird der Choreografie und dem Tanz deutlich ein bildnerisches Element zugewiesen, und innerhalb der bildenden Kunst werden choreografische Strukturen freigelegt (die architektonischen, musikalischen und performativen kennen wir ja schon). Die Ausweitung der Ge-Stelle - im Heideggerschen Sinn als Dispositive des Technologischen - nützt den Gattungen, weil es sie öffnet und differenziert, und weil es sie im Sinn von Félix Guattaris Metamodellisierung bereichert und komplexer macht. Was wiederum unter der die demokratischen Kulturpolitiken beeinflussenden Herrschaft einer ökonomischen Effizienzlogik ein Politikum darstellt.

Die Aktivierung der Live-Kunst-Archivalie „18 Happenings in 6 parts“ war Teil eines komplexeren Arrangements im Münchener Haus der Kunst, wo noch bis zum 21. Januar 2007 die Ausstellung „Allan Kaprow. Kunst ist Leben" zu sehen ist. Eine Brücke zwischen der Ausstellung und dem historischen Happening schlug für einige Tage der Berliner Choreograf Thomas Lehmen mit seiner Aktion „Lehmen macht - Kommentar zu Allan Kaprow". Gemeinsam mit seiner 85-jährigen Mutter, seiner Schwester und einer Assistentin lud Lehmen Leute in einen Raum ein, der auch die Installation für Kaprows Werk enthielt.

Dieser Raum war nur nach Durchquerung einer Halle zu erreichen, in dem die Environments von „Activities" (wie Kaprow seine vormals als „Happenings" bezeichneten Arbeiten ab 1968 genannt wissen wollte) zu sehen sind, die Kaprow noch vor seinem Tod an Münchener Künstler „weitergegeben" hat. Die Idee der Überantwortung findet sich auch bei Lehmen: Jede Besucherin und jeder Besucher seines Environments aus einem Wohnzimmer-Küche-Werkstatt-Schule- und Lager-Komplex darf etwas zeigen und damit weitergeben, das ihres oder seines Erachtens nach von anderen Menschen gelernt werden sollte. Diese Beiträge werden dokumentiert und zu einer Sammlung vereinigt. Lehmen nutzt so einen ins Soziale und Dokumentarische erweiterten Begriff von Choreografie. Es gibt keine Darsteller, die etwas vorspielen, sondern vielmehr Handlungen aller Beteiligten, in denen auf das Wissen des Publikums zugegriffen wird.

Ein Modell als Coup 

Rothenbergs schöne kuratorische Idee der Verschränkung von drei verschiedenen Strategien der Verlebendigung des Archivs ist aufgegangen. Die Ausstellung mit ihren Vitrinen, Arbeitstischen, Filmprojektionen, Videos und zwei Räumen, die auf performative Realisierungen hinweisen, animieren die Anschauungs- und Vorstellungskapazitäten der Besucher. Sie schafft auch einen wichtigen dokumentarischen „Umraum" für das sogenannte „Re-Doing" von Kaprows Happening und macht eine Archivalie im Kontext der Gegenwart wieder erlebbar. Und Lehmens Kommentar zu Kaprow weist über seine Eigenwertigkeit hinaus auf die Weiterungen der Werke des im April 2006 verstorbenen Amerikaners hin.

In seiner Rekonstruktion ist André Lepecki, dem führenden Gegenwarts-Tanztheoretiker der USA, ein beeindruckendes Statement gelungen. Er setzte „18 Happenings in 6 Parts" aus den verschiedensten Text-, Bild- und Tonaufzeichnungsmaterialien, die von der Aufführungsserie am 4. und dann vom 6. bis zum 10. Oktober 1959 erhalten sind, zusammen, ließ mit Noémie Solomon das Bewegungsmaterial neu entstehen und übersetzte mit Shawn Greenlee das Tonmaterial, das erst im Lauf der Recherchen für dieses Projekt wieder auftauchte, in lebendige Akustik. Die aus drei Kabinetten bestehende Rauminstallation wurde von Christin Vahl bis auf den Bohlenboden der Reubengalerie hin möglichst detailgetreu nachgebaut.

Der Entschluß, eine sehr nüchterne rekonstruktive Strategie zu wählen, ist in Zeiten des „Re-Enactment“ ein bemerkenswerter Coup: Anstatt selbst als Remake-Agent eine Aneignung Kaprows zu demonstrieren, nimmt sich André Lepecki zurück und eröffnet so innerhalb des laufenden Diskurses eine Möglichkeit, sich noch einmal mit dem Begriff der Werktreue auseinanderzusetzen. Denn sein „Re-Doing" ist nicht der Spekulation mit einer - unmöglichen - historisierenden „Objektivität" verpflichtet. Es stellt vielmehr ein Modell her, in dem das Erleben eines Happenings wie jenes aus dem Jahr 1959 möglich wird.

Selbstunterbrechung des Museums 

Die Ausstellung zeigt unter anderem zwei Ankündigungsbriefe der Reuben Gallery, in denen deutlich wird, daß der Titel des „Events" bis kurz vor seiner Veröffentlichung nicht feststand. Die „Eighteen Happenings" hätten auch „Small Arcade" heißen können. Zitiert wird Kaprow wie folgt: „In this different art, the artist takes off from life. Think of a buying spree [Einkaufstour, Anm.d.A.] at Macy's; how to grow geraniums in New York. Do not look for paintings, sculpture, the dance, or music. The artist disclaims any intention to provide them. He does believe that he provides some engaging situations..." Diese ironische Einladung zu einer verschobenen Rezeptionshaltung wirkt heute im „Re-Doing" innerhalb eines Museums ebenso irritierend wie sie damals im Loft der Galerie gewesen sein muß.

Vor allem in Zeiten, in denen der betriebsökonomische Aufwand vieler Bauschalen zur Bewahrung von bildender Kunst sich zunehmend gegen ihre Inhalte wendet und daher alles für eine Öffnung dieser Strukturen spricht. Das Museum versucht also, seine schwere, statische Performance zu durchbrechen und seinen Raumüberfluß zu teilen. Das wird bei „18 Happenings in 6 Parts" deutlich erfahrbar. Das Haus der Kunst unterbricht sich selbst in der Teilung dieses Projekts mit einer ephemereren Institution wie einem Tanzfestival.

Der Unterbrechung kommt übrigens in der Zeitstruktur von Kaprows Happening eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Die Pausen machen, zusammen genommen, die Hälfte der Aufführung aus. Die Besucher haben mehr als genug Zeit, einander wahrzunehmen, in drei je zweiminütigen Unterbrechungen, in denen sie aufgefordert sind, sitzen zu bleiben, und in zwei 15-minütigen, während derer sie sich frei bewegen können. Man befindet sich in einem gemeinsamen „Gehäuse", das aus drei Zimmern besteht: in einer Gemeinschaft aus einander Unbekannten, die sich in Erwartung von Darbietungen selbst voreinander ausstellen und dieselbe Wertigkeit haben wie die Darsteller. Zwischen Performern und Publikum bleibt allerdings Distanz. Die Rezeption erfolgt also aus der Schwellenposition des Zuschauers zwischen Akteur und Konsument.

Das Tap-Tap eines Balls 

Die transparenten Wände der drei Räume verstärken diese Schwellenhaftigkeit noch über das Mittel der Ablenkung. Immer wieder wird die Aufmerksamkeit durch bruchstückhaft wahrnehmbare Aktionen in den Nachbarräumen von dem Geschehen im eigenen Kabinett weggeleitet. Die 18 kurzen Geschehnisse scheinen im Grunde nur dafür dazusein, die Performance der Unterbrechung, der Schwellenhaftigkeit und der Ablenkung zu strukturieren. Es sind wunderbar lakonische kleine Darbietungen. Die Darsteller geben Tänzer, Schauspieler, Aktionsmaler, Bühnentechniker in kleinen Umbauten und Musiker (sie formen eine Band), Pantomimen, Spieler (eines Würfelspiels) und Deklamateure. Jede einzelne Handlung ist genau choreografiert.

Blaue, rote und gelbe Glühbirnen verweisen auf die Grundfarben, die Aktionsmalerei erfolgt auf der Vorder- und Rückseite einer Leinwand in komplementärem Rot und Grün, eine der stakkatohaften Diashows zeigt nackte Leiber in barockisierender Manier. Kaprows Vorschlag, weder Gemälde noch Skulpturen noch Tanz oder Musik zu suchen, deutet auf die Requisitenhaftigkeit der Objekte hin. Ebenso die Lichterketten, die Spiegel, die Platte mit aufgeklebten Äpfeln und Birnen aus Wachs, der trashige „sandwich man", die zwei roten und zwei grünen Papierrollen als Träger von am Ende abgelesener Lautpoesie. Die „elektronische" und „akustische", konservierte und live gespielte Musik, das Tap-Tap eines Balls, die Stimmen, die Stille schaffen eine Verbindung zu Cage, dessen Student Kaprow war, bevor er seine „18 Happenings" aufführte.

André Lepeckis Aktivierung dieses performativen „Klassikers" der postmodernen Kunst hebt denselben aus den Sedimenten der Überschreibung durch das Anekdotische, ohne ihn mit historischem Charisma zu romantisieren. Das Münchener Format macht klar, daß dieser Akt der „Ausgrabung" die Anekdote zum wiederholten Mal herausfordert, und daß genau dieses Wiederholte die einzige Wiederholung im wieder Holen von performativer Kunst aus der Historisierung bedeutet. Die „18 Happenings" zeigen heute, daß von der Norm abweichende Kunstrezeption auch nach 47 Jahren immer noch die Ausnahme bildet. Daher bildet ihre Aktivierung ein Stück Gegenwart.

(13.11.2006)