Corpus Suche:

Die emanzipierte Kulisse

JOZEF WOUTERS’ BÜHNENWERK “INFINI 1–18” BEI DEN WIENER FESTWOCHEN 2022

Von Helmut Ploebst

Das Widersprüchliche kann eine der stärksten Linsen in die Makro- und Mikrostrukturen der Wirklichkeit bilden. Auf einen ideologisch verengten Blick allerdings wirkt die Existenz des Paradoxalen bedrohlich. Die Folgen sind historisch erprobt: lineare Wahrnehmung, dysfunktionale Diskurse und destruktive Handlungsmodelle. Am anvisierten Eindeutigen zerbrechen Verstand und Kultur.

 

In einigen komplexen Diskursarealen – die unvermeidlich Paradoxa enthalten – vandalisiert gerade erneut der Wille zur Macht. Im Zuge dieser fatalen Entwicklung soll Kunst wieder einmal ihren „Nutzen“ für die Gesellschaft, ihre Unschädlichkeit für das Gemeinwohl und ihre Einsetzbarkeit für das „Gute“ nachweisen. Nicht nur in aktuellen totalitären Systemen wie dem russischen oder chinesischen, sondern auch dort, wo das vermeintlich keine Autorität oktroyiert. Durch diesen Widerspruch zwischen Freiheit und Verpflichtung taucht der belgische Szenograf, Autor und Regisseur Jozef Wouters in seinem Projekt Infini 1–18 zusammen mit dem Dramaturgen Jeroen Peeters und einer Auswahl eingeladener Künstlerınnen (hier „Correspondants“ genannt).

 

In einer Welt des „Narko-Pop“

 

Als ein Höhepunkt der Wiener Festwochen 2022 war Infini 1–18 auf der großen Bühne des 1889 errichteten Wiener Volkstheaters zu sehen. Wouters selbst hielt eine kleine Einführung mit dem Hinweis auf die initiale Referenz dieses Projekt: den Architekten und Szenografen Giovanni Niccolò (auch: Jean-Nicolas) Servandoni (1695–1766). In einem ausführlichen Artikel über Infini 1 – 15, das war die Uraufführungsfassung von 2016, schreibt Jasper Delbecke: „In an attempt to liberate painting and stage design from the yoke of poetry and dance, Servandoni created performances consisting solely of painted sceneries and backdrops or infini.“ [1]

 

Servandonis Zugang verunsichert den im 21. Jahrhundert zwanghaft erstarrenden Blick in heute zeitgenössische Medien. Nicht zuletzt dieses Starren auf kleine Bildschirme hat einen narzißtischen Voyeurismus globalisiert, der sich immer weiter darauf konzentriert, Menschen auszuspähen. Im Theater sind die Betrachterınnen bereits traditionell darauf konditioniert, sich selbst via Identifikation im darstellerisch Anderen gespiegelt wähnen zu sollen. Diese Norm ist so tief verankert, daß Brüche unmittelbar Argwohn auslösen. Daher kennt die populärnarzißtische „Narko-Pop“-Gegenwart [2] kaum noch nonfigurative Bildwerke, keine abstrakten Filme und nur ganz wenige Bühnenproduktionen ohne Darstellerınnen.

 

Michiel Soete, „Infini #3: Seldom Real“        Foto: Nurith Wagner-Strauss

 

Immerhin haben der Schweizer François Grémaud und der Franzose Victor Lenoble 2021 in Lausanne ein Pièce sans acteurs vorgestellt. Und vor rund zwanzig Jahren experimentierte Jérôme Bel an einem Spectacle sans acteurs, ließ das Projekt, in dem er die Theatermaschinerie choreografieren wollte, aber schließlich fallen. Gelungen ist dann etwa 2009 im Tanzquartier Wien unter Sigrid Gareis die Performance Evaporated Landscapes von Mette Ingvartsen, in der Theaternebel, Schaum, Licht und Sound tanzten.

 

Szenografie als eigenständige Bühnenkunst

 

Bels semiotisch angelegtes Spectacle sans acteurs wäre Jozef Wouters’ Arbeit vermutlich am nächsten gekommen, doch der Belgier hat mit Servandoni einen anderen Angelpunkt gewählt. Servandoni, der 1760 auch einmal für den Wiener Hof gearbeitet hat, war spezialisiert auf Kulissenmalerei und Bühnenmaschinerie. Er erhob die Szenografie zur eigenständigen Bühnenform, was ihm seinerzeit viel Aufmerksamkeit einbrachte. Wouters überlegte, ob sich diese Idee nicht auch auf die Gegenwart beziehen ließe. Und er fragte die Correspondants seiner Wahl, welche Landschaft sie gerne heute in einem klassischen Theater zeigen würden. Die Bedingung: Es sollte nur Bühnendekor verwendet werden.

 

Zur Zeit besteht das Infini-Projekt aus 18 Teilen, 14 davon waren in Wien zu sehen. Der dreieinhalbstündige Abend kann aus mehreren inhaltlichen Perspektiven gelesen werden, den Ausgangspunkt für die folgende Reflexion bildet ein aus dem Bühnendunkel gesprochener Text, den der Choreograf Michiel Vandevelde unter dem Titel Infini #4: Annex aus Schriften von Franco „Bifo“ Berardi, Jean-Luc Godard, Hito Steyerl, Eduardo Viveiros de Castro und ihm selbst montiert hat. Darin heißt es: „In 1977, human history reached a turning point. Material landscapes, as we used to know them, disappeared. They were not destroyed by an apocalyptic event, but were transferred to another dimension: dissolved, transformed into ghosts.“ [3]

 

Zur Erläuterung: In diesem Jahr 1977 wurden von Apple, Radio Shack und Commodore die ersten richtigen Heimcomputer auf den Markt gebracht. Mit Folgen, die damals wider mögliches besseres Wissen [4] nicht in Betracht gezogen wurden: Die Menschheit, getäuscht von „new kinds of immaterial landscapes made from deceptive electromagnetic substances, lost faith in the reality of life, and started only to believe in the infinite proliferation of images“. [5]

 

Verfälschte Bilder und die Blondine in seinem Arm

 

Etliche der politisch orientierten Inhalte anderer Infini-Beiträge können diesem Text zugeordnet werden. Etwa der von Anna Rispoli als Infini #9; Intervallo eingebrachte Dialog zwischen einem migrationswilligen Tunesier und einer bereits in Europa angekommenen Migrantin, die das internetinduziert verzerrte Bild des Mannes von seinem Traumland darstellt: „Der Eiffelturm, die Champs Elysées, ein Range Rover und eine Blondine an meinem Arm ... Das ist Frankreich!“. [6]

 

Oder das Infini #17 der Koreanerin Jisun Kim, das den Blick in eine virtuelle Ausstellung zieht, die vom populären Computerspiel Minecraft ersetzt wird. Ebenso Thomas Bellincks Kritik an Frontex unter dem Titel Infini #7: Simple As ABC: Man vs. Machine und die als Computer-Bildschirm projizierten Horizonte von Bryana Fritz (Infini #16). Alle diese Beiträge verarbeiten direkt oder mittelbar Bedrohungsszenarien aus dem schwarzen Loch der digitalen Herrschaftstechnologie.

 

Bei Vandevelde heißt es: „The seductive force of simulation transformed material forms into vanishing images, submitted visual art to viral spreading, and subjected language to the fake regime of advertising. At the end of this process, real life disappeared into the black hole of the digital.“ [7] Das dazu passende Szenografie-Werk zeigt Rima Jabr als Infini #5, das den Publikumsblick in einen ins Unendliche führenden Tunnel durch einen aschefarbenen Wald führt, die Kopie einer Kulisse von Giovanni Servandonis Zeitgenossen Carlo Galli da Bibiena.

 

Der Tunnelblick zur „Silly Symphony“

 

Tatsächlich scheint das spektakulärste Charakteristikum der Gegenwart der Tunnelblick geworden zu sein, sei er nun kapitalistisch, nationalistisch, (post-)kolonialistisch, rassistisch, homophob oder auf andere Art monothematisch trainiert. Jabr bezieht ihre Arbeit auf die Situation der Palästinenser, das Feststecken im Tunnel eines schier endlos perpetuierten Konflikts. Der Tunnelblick ist eine Beschränkung der Sicht, eine Einengung der Wahrnehmung, wie sie sich in Phasen der Panik oder eben bei ideologischer Arretierung des Schauens einstellen.

 

Rima Jabr „Infini #5“: Perspektive der Panik, bei ideologischer Arretierung des Schauens und im digitalen Starren.                       Foto: Wouters

 

Eine ironische Illustration der Folge eingeengter Wahrnehmung ist gleich zu Beginn von Infini 1–18 auf eine kleine Leinwand projiziert, während Jozef Wouters seine Einleitung zum Abend spricht: ein Still aus einem Disney-Filmchen, in dem ein großer böser Wolf auf die Eingangstür einer fragilen Hütte von zwei kleinen Schweinchen bläst. Die Schweinchen halten mit aller Kraft die Tür zu, während der Rest der Hütte bereits weggeblasen ist. Der Titel des 1933 entstandenen Zeichentricks lautet bezeichnenderweise Silly Symphony.

 

Gleich auf die Einleitung folgt mit Infini #3: Seldom Real das erste künstlerische Statement. Michiel Soete zeigt einen Vorhang, der sich in einen Boden verwandelt und durch eine halbtransparente Leinwand ersetzt wird, auf der Wolken von Theaterrauch einen bewegten Himmel mimen, bevor auf dieser Leinwand filigrane Lichtformen zittern. Hier setzt sich eine poetische Kraft in Szene, die nicht von vornherein in Festlegungen eingezwängt ist. Ähnlich auch Wim Cuyvers’ Infini #8 mit sieben Texten über intensive Raumerfahrungen, die das Publikum von einer großen Schriftrolle aus Papier abliest.

 

Ein Theater hebt ab

 

In diesem Sinn kann auch Infini #6 von Sis Matthé gelesen werden. Matthé hatte den ehemaligen Kulissenmaler Thierry Bosquet gebeten, noch einmal zum Pinsel zu greifen. So entstand eine Darstellung des Antwerpener Hafens, in dem Container gestapelt sind. Diese enthalten, so ist der aus dem Off erzählten, sehr poetischen Geschichte zu entnhmen, die alten Kulissen des Brüsseler Opernhauses La Monnaie. Im Hintergrund dieser Hafenansicht sind die Kühltürme eines Atomkraftwerks zu sehen.

 

Eine überaus suggestive Raumerfahrung schenkt Begüm Ercyas dem Publikum: In ihrem Infini #10 vermittelt sie den Eindruck, das Theater würde abheben wie eine Rakete und in den blauen Himmel, in die Schwärze des Alls fliegen. Hier entsteht eine Brücke zum Schluß von Michiel Vandeveldes Textmontage: „A black box. A black hole. A black space. A box in a box. The concept of the concept. Nothingness. Non-knowledge. A concrete abstraction. A landscape that eats itself. / A landscape that explodes. / Once it was said that there are no shadows in a black space. Now the black space has its own shadow, its dark twin: a box in a box. A hole in a hole.“ [8]

 

Die Wiener Fassung von Infini 1–18 schloß mit dem Infini #14: Ne† von Rodrigo Sobarzo, in dem ein psychedelisch anmutender Stoff im Licht bewegt wie ein Wasserfall erscheint. Dazu wird ein musikalisches Stück „Narko-Pop“ gespielt: „Ghostrider“ des Rappers Young Lean, in dessen drogengeschwängerter Karriere der Überdruss an unserer Kultur aus „deceptive electromagnetic substances“ und „lost faith in the reality of life“ (Vandevelde) offenbar eine zentrale Rolle spielt.

 

Digitale „Narko-Politik“ als Zukunftsszenario

 

Das „Loch im Loch“ ist der Eskapismus aus der Illusionsmaschine in narkotisierende Traumwelten, deren bunte Oberflächen ein pechschwarzes Vakuum einhüllen – den Nihilismus der umfassenden Mischung aus Technologie und Finanzwirtschaft, die das 21. Jahrhundert – mittlerweile wohl unvermeidlich – in eine dystopische Zukunft leitet. Das Fehlen von Darstellerınnen auf der Bühne von Infini 1–18 symbolisiert aus dieser Perspektive ein Sichabwenden von der paradoxal grellen Finsternis der Identifikationen oder auch der digitalen „Narko-Politik“ [9] von Identität und Narzißmus.

 

Was bleibt, ist Imagination und Idee, Reflexion – und das Paradoxale, jene Linse, die uns immer wieder verrutscht. Ein den Narko-Pop opponierendes Kunstwerk arbeitet nicht nur mit inneren Widersprüchen – Amanda Piñas Beitrag Infini #18: Pres 22 fries aziatiek etwa kommt als pure und lineare Propaganda daher – sondern auch mit seinem Medium. Wouters’ Infini 1–18 ist insgesamt ein gutes Beispiel dafür.

Fußnoten:

  1. ^ Jasper Delbecke (2019): „The theatre space as essayistic space: on Infini1-15 by Decoratelier“. In: Theatre and Performance Design, 5:3-4, 233-249, hier: 236.
  2. ^ Der Terminus „Narko-Pop“ bezeichnet hier (im Unterschied zu den mexikanischen Narcocorridos) eine globalisierte Kulturindustrie, die ganz im neoliberalen Sinn davon lebt, ihre Konsumentınnen mit gefälschten Gesten und seduktivem Pomp zu narkotisieren. Guy Debord hätte vom „Spektakel“ gesprochen. Der Narko-Pop ist ein erweitertes Konzept dieses Spektakels, das die Inszenierungen seiner Schein-Gegnerınnen ebenso mit einschließt wie die populistischen Ausformungen des Identitären und seiner „sozialen“ Medien.
  3. ^ Vandevelde, Michiel: INFINI #4: Annex. In:  https://www.festwochen.at/infini-4-annex (zuletzt eingesehen 16. 6. 2022).
  4. ^ Wieder einmal galt und gilt bis heute, was Mephistopheles bei Goethe („Faust“, 1808) einem Schüler ins Stammbuch schrieb: „Eritis sicut Deus scientes bonum et malum.“ Zu den in den Wind geschlagenen Kritiken jüngeren Datums an der menschlichen Hybris gehören H. G. Wells’ „The Island of Dr. Moreau“ (1896), E. M. Forsters Kurzgeschichte „The Machine Stops“ (1909), die bekannten Werke von Aldous Huxley, „Brave New World“ (1932) und George Orwell „1984“ (1949) bis hin zu Philip K. Dicks Science-Fiction-Literatur wie „A Scanner Darkley“ (1977).
  5. ^ Vandevelde, Michiel: Ibidem.
  6. ^ Rispoli, Anna: INFINI #9: Intervallo; https://www.festwochen.at/infini-9-intervallo (dt. Übersetzung für die Wiener Festwochen von Isolde Schmitt; zuletzt eingesehen 16. 6. 2022).
  7. ^ Vandevelde, Michiel: Ibidem.
  8. ^ Vandevelde, Michiel: Ibidem.
  9. ^ Die dem Narko-Pop entsprechende Politik folgt primär dem auf Medienperformances ausgerichteten Duktus der Public Relations. Typische Vertreter der Narko-Politik sind Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der nur mit Hilfe der „sozialen“ Pop-Medien an die Macht kam, oder Donald Trump. Die erste narkopolitische Nation der Welt ist China. Narko-Politik wird auch in Europa durch gezielt eingesetzte Algorithmen gesteuert, wie beispielsweise bei dem Volksentscheid über den Brexit 2020 zu beobachten war.

 

(18. 6. 2022)