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In der Unterwelt des Glücks

“THE ENDLESS ISLAND OF HAPPINESS” VON LINDA SAMARAWEEROVÁ IM TANZQUARTIER WIEN

Von Helmut Ploebst

Wenn sich das Publikum in die vor allem vom Tanzquartier genutzte Souterrain-Halle G des Wiener Museumsquartiers begibt, tut es das durch zwei Schleusen. Sowohl der linke als auch der rechte Eingang garantieren Schallschutz durch jeweils zwei hintereinander gesetzte Doppeltüren. Im technischen Zweck dieser Konstruktion verbergen sich aber noch zwei weitere Wirkungen. Erstens existiert zwischen jeweils der äußeren und inneren Tür ein liminaler Raum, eine Schleuse. Und zweitens signalisieren diese Schwellenräume, dass alle durch sie eingelassenen Besucherınnen eine Realität betreten, die sich von jener außerhalb des Theaters unterscheidet.

 

Dieser Übergang erhält bei Linda Samaraweerovás neuer Arbeit The Endless Island of Absence, deren Uraufführung das Tanzquartier Wien am 26. und 27. Oktober 2018 in der Halle G präsentiert hat, eine besondere Bedeutung. Denn die Schleuse als Eingang zu diesem speziellen Theater lässt sich in der Reflexion dieser Arbeit sowohl mit der darin umgesetzten Schauplatzstruktur als auch mit einem wichtigen inhaltlichen Aspekt verbinden.

 

Im Gären der Kultur

 

Angenommen sei – was natürlich nur für die im Stück hergestellte fiktive Realität gilt –, dass die Regeln und Normen der organisierten Gesellschaft nur bis zu den beiden Doppeltüren der Halle G reichen. Die Regeln und Normen jener sozialen Welt, in der irgendwann auch das „Mysterium des Glücks“ (angesprochen im Untertitel der Performance: Mystery of Happiness) erfunden wurde. Hinter den beiden Schleusen jedoch scheint diese administrierte, ökonomisierte Welt eine andere geworden zu sein. Denn jenseits der Schwelle eröffnet sich eine Unterwelt, die kein Hades ist, sondern eine Black Box.

 

Die Schwarze Schachtel gehört wohl zu den genialsten Modellen der in ihren Kulturen florierenden, aber zugleich auch gefährlich gärenden menschlichen Spezies. Eines der effektivsten kulturellen Gärungsmittel ist die Mystifikation. In Gesellschaften implementierte Mystifikationen oder Irreführungen können kommunikationsstrategisch sehr gut gelenkt und kontrolliert werden. Unter dieser Voraussetzung ist zum Beispiel das „Glück“ zum historisch wohl meistmissbrauchten Begriff geworden. Das semantische Operationsgebiet dafür befindet sich in dem trinären System Glück – Schwellenraum – Unglück. Wobei zum einen der Schwellenraum das emotionale Spektrum zwischen Glücksgefühl und Unglücklichsein enthält und zum zweiten die Termini Glück wie Unglück selbst als Bezeichnungen für ephemere liminale Zustände dargestellt werden können: Nicht(un)glück – Schwelle (Glück/Unglück) – Nicht(un)glück.

 

Divina Commedia

 

In einer künstlerischen Abwandlung dieses trinären Systems verortet Samaraweerová ihre unendliche Insel der Abwesenheit, die sie für die Uraufführung des Stücks idealtypisch in die Black Box namens Halle G einbaute. Das Premierenpublikum wurde anfangs zu einer Plattform, auf der eine junge Frau tanzte, geleitet und nach deren Solo über eine – liminale – Treppe abwärts in den großen Bühnenraum der Black Box geführt. Dort galt die Einladung, sich einzeln in eine der zahlreichen von der Decke hängenden Hängematten zu begeben. In dieser Installation tanzte später Linda Samaraweerová selbst.

 

Die 1977 in Prag geborene österreichische Choreografin nutzte die beiden Ebenen dieser speziellen Black Box – bewusst oder intuitiv – wie zur Andeutung der Bauweise von Dantes Inferno. Diese Anspielung genügte, um daran zu erinnern, dass Dante im 14. Jahrhundert seine Commedia als Schwellenstruktur auf dem Weg zur Seligkeit gezeichnet hatte: Inferno – Purgatorio – Paradiso. Anfangs wird der Erzähler von Vergil geleitet.

 

Exorzismus eines trügerischen Dämons

 

In The Endless Island of Absence führt die von Ondine Cloez verkörperte Figur einer barfüßigen jungen Frau in Freizeitkleidung, mit Brille und Schildkappe, in kurzen Hosen und leichter Bluse ein. Sie versammelt das Publikum um sich, bereitet es auf etliche Eventualitäten des Kommenden vor, stellt sich dann auf einen mintfarbenen Bodenfilz und schließt die Augen. Langsam hebt sie ihre Hände vor sich bis in Ellbogenhöhe an, dreht diese Hände langsam hin und her, schwingt die Unterarme langsam nach links und rechts. Mit dieser Bewegung beginnt sie, Schritt für Schritt, behutsam rückwärts zu gehen.

 

Während sie so bei der Uraufführung fünf Schleifen abschritt, rauschte im Kopf des Zuschauers noch das von draußen Mitgebrachte. Es begann erst während der dritten Schleife abzuebben. Cloez könnte hier als eine Allegorie des Spaßes gesehen werden, und das von ihr vollzogene Ritual der fünf Schleifen als die Verwandlung dieser Allegorie in eine äußerst milde und ebenso beharrliche Exorzistin, die den trügerischen Spaß-Dämon bannt.

 

Widerspruch des Sozialen

 

Da mochten die Erregungen des Spektakels von außen noch so heftig an die Türen der Tanzquartier-Black Box branden, die langsam geschrittenen Schleifen der Tänzerin im geschützten Raum lösten mitgeschleppte Reste davon doch auf. Ab und zu drangen von unten her aus dem tiefer gelegenen Bühnenraum unheimlich anmutende Klänge zur Plattform hoch – wie Echos dieser Auflösung und wie Zeichen dafür, dass dieses Ritual nicht als ein therapeutisches gedacht ist.

 

Nach diesem Tanz stieg die Gruppe der Hergekommenen die erwähnte Treppe hinab zur Bühne in eine blau beleuchtete Installation aus den mit Seilen an der Decke befestigten Hängematten, in die sich jeder und jede einzeln setzen sollte wie in einen Beutel respektive wie in das, was er oder sie für sich selbst hält. So stellte sich auf der Bühne und zugleich tieferen Ebene von Samaraweerovás Performance jenes Mit-sich-Alleinsein dar, das uns alle als unüberwindlicher Widerspruch des Sozialen unablässig einhüllt. Dieses Paradoxon, konnte der bequem eingebeutelte Besucher nun denken, erzeugt möglicherweise alles, was draußen vor den Türen tobt: den unendlichen Spaß im Gärschlamm des Spektakels, all die Schirmkappen und Kriege, die Freizeit und das große Geschäft.

 

Wenn ein Traum zerplatzt

 

In diesem Teil von The Endless Island of Absence kommen die Besucherınnen zur Ruhe. Sie werden eine Zeitlang von allem Licht befreit und in einen Ablauf getaucht, der zum Teil von einem Text (Bruno Batinic in der deutschen Übersetzung von David Ender) durchflüstert ist. Sie geraten in einen Zustand an der Schwelle zwischen An- und Abwesenheit, in den sich Musik mischt und über dem sich geisterhafte Lichtspiele ereignen. Alles scheint zu schweben. Sogar die Tänzerin Linda Samaraweerová, die sich lautlos durch die Beutelreihen bewegt. Die Zeit zerfießt, und für jeden sind die anderen dort, wo sie jeweils hingehören.

 

Irgendwann nach schönen Sätzen wie „wenn ein Traum zerplatzt, kommst du auf die Füße“ hört der Text auf, verklingen die Töne, wechseln die Lichter. Am Ende erscheint klar, dass Linda Samaraweerová eine Utopie umsetzt, deren Form sich nirgendwo anders bilden kann als in jedem und jeder einzelnen. Denn nur da kann ein als Glück deutbares Gefühl entstehen und nur innerhalb eines psychischen Systems entscheidet sich, was dieses Gefühl – oder die täuschend echte, umweltinduzierte Simulation davon – auslöst.

 

The Endless Island of Absence birgt ein Geheimnis: Hier befindet sich einer der Eingänge zur Unterwelt der Mysterien und der Mystifikationen des Glücks. In jedem Beutel entscheidet sich, ob dieser Eingang gefunden, ob er durchschritten wird, und was danach geschieht. Damit ist dieses zart schaurige Stück als überlegt komponierte Immersion eine äußerst gelungene Performance.

 

(29.10.2018)