Corpus Suche:

Die progressive Fischkultur

ZUKUNFT “SANS SENS CRITIQUE”: MIT EINER FARCE AUS STÖRGEDÄRMEN, ALICES SPIEGELAUGEN UND MEINER DANSE DICTIONNAIRE

Von dort drüben in ihrer Schüssel

Ich male mir aus zu träumen, daß ich wann auch immer auf einer Bühne erwachen werde und mich nicht bewegen kann. Die Sitzreihen im Auditorium dieser in die einsamen Weiten der Pannonischen Steppe gesetzten und wie von Béla Tarr stimmungsvoll ruinierten Schwarzweißkopie des Gran Teatro de La Habana „Alicia Alonso“ sind leer. Warum also stehe ich in diesem zugigen Proszenium? Und wozu das Licht, wenn ohnehin niemand zuschaut?

 

Vielleicht, so spekuliere ich in meiner somnambulen Versetztheit, sitzen ja doch Besucherınnen da, ohne dass ich sie sehen oder hören kann. Weil sie Gespenster sind. Möglicherweise warten sie, gerade frisch ins Theater geweht, und sehen mich nicht, weil ich nur meine Einbildung bin. Daher und trotzdem wähne ich mich beobachtet. Dieses Gefühl verbeißt sich mir ins Gedärm, was meine Starre schlagartig löst.

 

Wie von einer Tarantel gestochen, hüpfe ich auf den ramponierten Brettern der weiträumigen Schauhöhle los und vollführe ein kleines Tänzchen. Dessen einfaches Muster bildet in meiner Traum-Einbildung die Frage ab, warum mir wohl ausgerechnet die bailande Kunst zur unheimlichen Begleiterin geworden ist. Lassen Sie mich das kurz vergrößern. Seit ungefähr fünfzig Jahren besitze ich ein „Round Reading Glass“ – gut geschützt von seiner noch originalen flachen Schachtel in zwei milchigen Grüntönen, auf die keine Markenbezeichnung gedruckt ist –, das ich unter anderem benutze, um sehr klein gedruckte Fußnoten zu lesen.

 

„Küche ist auch eine Art Wissenschaft“

 

Generell unterscheiden wir im Englischen das Reading-glass vom Looking-glass, also das Vergrößerungsinstrument vom Widerbildner des Blicks. Ich sehe an, woraus die Black Box schaut, die ich mir und anderen bin, starre auf das Loch dieser Camera obscura, auf die Dunkelheit in dem schwarzen Kästchen. „Now, if you’ll only attend, Kitty, and not talk so much, I’ll tell you all my ideas about Looking-glass House“, verspricht Alice ihrem schwarzen Kästchen, verzeihung, Kätzchen in Carrolls Buch Through the Looking Glass, erschienen am 27. Dezember 1871 und daher in der bei Macmillan And Co. verlegten Erstausgabe mit 1872 ausgewiesen (Zitat s. Seite 9).

 

Hors d’œuvre, Teil 1: Nāgarī aus Horace Hayman Wilson, Dictionary, Sanscrit And English, 1819.

 

Ein Jahrzehnt davor, am 21. Mai 1861, hatte Helene von Molochowetz (Jelena Iwanowna Molochowets i.e. Елена Ивановна Молоховец), geboren in Archangelsk, ihr berühmtes Buch Пода́рок молоды́м хозя́йкам – noch anonym – publiziert, das sie 1877 auch ins Deutsche übersetzte und bei Oswald Mutz in Leipzig als Geschenk für junge Hausfrauen herausbrachte. Dort heißt es, ganz in dem für dieses großartige Werk typischen Gleichmut formuliert: „Getrocknete Störgedärme, Visigia genannt, werden die ganze Nacht in Wasser geweicht, am Morgen gewaschen, mit frischem Wasser begossen und gekocht, bis sie weich werden […].“ (1877, S. 286)

 

Genau das ist es, was ich mir ausmale, auf der steppengewachsenen Alicia-Alonso-Bühnenkopie zu tun, sobald ich mich mein oneiroides Taranteltänzchen wieder losgelassen hat. Das Einweichen wage ich vor allem deswegen zu träumen, weil ja möglicherweise doch niemand im Auditorium sitzt, Alice neben mir ohnehin mit ihrer Katze beschäftigt ist, und Jelena M. an einem aus orthodoxen Kruzifixen gezimmerten Tisch ganz für sich am Vorwort für ihr Buch schreibt: „Küche ist auch eine Art Wissenschaft.“ (1877, S. III)

 

Die frisch verheiratete Jelena weiß es noch nicht, aber – so deliriert, was von mir bleibt, auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“ (Schiller 1803, An die Freunde) – sie verfasst tatsächlich, technologisch gesehen und in meinen tanzverklärten Augen, ein exzentrisches Science-Fiction-Werk: hier im Abseits dieses aus einer Schwäche des chronotopischen Gewebes in der Steppe gewachsenen Geistertheaters, mit Alice, ihr selbst und in aller Einbildung mir, vor all den wahrscheinlich Abwesenden.

 

Hors d’œuvre, Teil 2: Nāgarī aus Wilson, op. cit. 1819.

 

Diese hier so trocken vorgebrachte These läßt sich durch eine eingeschobene wahre Begebenheit in Form einer kleinen Anekdote leicht erweichen: Weil mir eine Suchmaschine spät im Jahr ‘20 ein Geschenk machen will, während ich in Gedanken auf der Bühne meine Störgedärme wässere, leitet sie mich mit dem Wort „Visigia“, das ihr ein schier unlösbares Rätsel ist, auf Horace Hayman Wilsons beflügelndes zweispaltiges Dictionary, Sanscrit And English weiter, das 1819 in Calcutta von Philipp Pereira, Hind Oostanee Press, verlegt wurde.

 

Dort findet sich auf Seite 584 linksspaltig ein Begriff in verschwommener Nāgarīschrift (vgl. 1819, S. L), den ich zwar nicht entziffern kann, dessen Form aber dem Wort Visigia zu ähneln scheint. Der Algorithmus der Buchmaschine hat seine Suchmarke allerdings übermütig bereits in die gegenüberliegende, rechte Spalte gesetzt, und zwar über „Visi-“ (das ganze, hier abgeteilte Wort ist „Visible“), ist aber dann auf die nächste Zeile der linken Spalte übergesprungen. Dort steht der erwähnte Begriff – in der Bedeutung „an animal, a sentinent or living being“ – in Nāgarī gedruckt, aus dem der mustergültige Algorithmus „gia“ herausliest. Und siehe da: Visigia.

 

Zum besseren Verständnis meiner Situation hier ein Detail aus dem Voynich-Manuskript (siehe VM 86), das mir in einem anderen Traum erschienen ist: Wellen, die zu Schuppen werden (Darstellung re.) oder zur Schwarmtraube (li.) und in beiden Fällen Pilzköpfe an schiefen Erguß-Stengeln zu bilden scheinen – wobei wohl die Darstellung in der Bedeutung des Ausströmens im Vordergrund bleibt. Links ragt eine Frau mit erhobener Hand aus dem Schwarm und rechts sucht ein Vogel, dem Erguß aus dem Fischpilzkopf zu entkommen. Die Frau gibt dem Tier offenbar Zeichen, die seine Aufmerksamkeit erregen. Die Bedeutung dieser Zeichen könnte der dazwischenliegende Text verraten, wenn er vielleicht früher oder später entschlüsselt sein wird.


 

Eigentlich hatte ich bei Molochwetz (1877) das Rezept Nr. 635 aus der russischen Ausgabe von 1887 gesucht – warum, verrate ich nicht –, mußte aber zu meiner Überraschung feststellen, daß die Autorin ihre deutsche Fassung anders gemischt hat als die russische. 1877 (S. 276), war Nr. 635: Gebratene Löffelstinte (Sniatki). Da ist es beinahe selbstverständlich, bei Carl Ulrik Ekströms Beschreibung der Fische in den Scheeren von Mörkö (1835 bei Reimer in Berlin – und im September 2020 bei De Gruyter wieder neu aufgelegt) nachzuschlagen, der den Löffelstint, heute eher Kleine Maräne genannt, konzise, aber doch mit Sorgfalt beschreibt (1835, S. 203ff): „Körper schmal und zusammengedrückt. Mund zahnlos, untere Kinnlade die längere, spitzig.“ Und dann, wie aus heiterem Himmel: „16 Strahlen in der Afterflosse.“ (S. 203) Sein „feines und fettes Fleisch“ sei gebraten „ein Leckerbissen“ (S. 206).

 

Marketing für einen vermeintlich heißen Ofen

 

Damit ist es beschlossen: Unter sechzehn immerfort nachfließenden Lichtstrahlen muß ich nun bis zum Morgen auf der Bühne bailando weitergeistern. Erst dann kann ich meine weich gewordenen Störgedärme waschen. Weil ich, wie gesagt, das schöne Nāgarī nicht lesen kann, versuche ich, die Begriffe in alphabetischer Reihenfolge exakt nach Wilsons Wörterbuch zu tanzen. Durch diese choreographische Lektüre transformiere ich das Dictionary, Sanscrit And English von 1819 ebenfalls in die Auf- oder vielmehr Abweichung einer künftigen Science-Fiction.

 

Selbstverständlich denke ich dabei an Dietmar Daths mit großem Genuß eingedickte Untersuchung der „Science-Fiction als Kunst- und Denkmaschine“, 2019 bei Matthes & Seitz unter dem Titel Niegeschichte tapfer gedruckt: „In den Sechzigern hatte sich Pop weltweit als eine angloamerikanische Erfindung durchgesetzt, die das Novum im Herzen der Avantgarde schluckte, verdaute und als Marketingwerkzeug wieder ausspuckte.“ (S. 530)

 

Hors d’œuvre, Teil 3: Nāgarī aus Wilson, op. cit. 1819.

 

Das ist durchaus als (gebunden, aber hell) suppige Anspielung auf das wenig bekannte „Sniatki-Dilemma“ – Fische oder Schnappschüsse (снятки) – zu lesen. Die in ihrem globalen Aufschäumen alles stalkende Schnappschuß-Kultur hält ihre Selbstablichtung als „Pop“ noch für einen heißen Ofen. Die im Gegensatz dazu tatsächlich progressive Fisch-Kultur (vgl. Molochowetz, aber nebenbei auch Voynich) rät, die frischen Löffelstinte auszuwaschen, bevor sie mit Zwieback bestreut und in finnischer Butter angebraten werden; dann kommt noch Sauerrahm dazu, gar werden lassen und fertig (1877, S. 276).

 

Wie wunderbar das riecht! Die Science-Fiction der Schnappschuß-Kultur dagegen verströmt ein Odeur à la Ballermann auf Schmorplatine: Star Wars, Ex Machina, Black Panther aus einer auf Zukunft geschminkten Welt alter Ritter, Räuber und Prediger von der traurigen Gestalt.

 

Ein neuartiger Pudding beim Braten

 

In solcherlei Elend des Futurs habe ich – ausschweifend suchtvoll – schon allzu viele Tränen getragen. Daher muß dieses elektrisch knisternde, ideengeschichtlich jedoch rostknarzende Genre wohl erst einmal über Nacht eingeweicht und dann in seine Zukunft gekocht oder getanzt werden. Molochowetz, so ich wie im Fieber, und Wilson (Horace Hayman, nicht Robert Anton!) sind als Science-Fiction neu zu erlesen und damit zu entdecken. Aber: Habe ich da zu tief in den Schiller geschaut?

„Neues — hat die Sonne nie gesehn.
Sehn wir doch das Große  a l l e r  Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll, still an uns vorübergehn.“

So sinnlich steht’s auf Seite 204 der 1883 von der Stuttgarter Cotta’schen edierten Ausgabe der Gedichte. Der Frontdeckel des Buchs ist sehr einladend als antikisierend gemusterter – für mich: fliegender – Teppich gestaltet. Das Gedicht An die Freunde endet so:

„Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie;
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!“

Gilles Deleuze sinnierte 1968 über „die Wiederholung im pronominalen Sinn“: „Man muß […] das Selbst der Wiederholung finden, die Singularität in dem, was sich wiederholt.“ (So der Wortlaut in Joseph Vogls Übersetzung von Differenz und Wiederholung, 19972 bei Fink auf S. 42) Meine Wilson-Choreographie ist zufällig gerade auch auf Seite 204 angekommen, und ich tanze so flink wie einzigartig die „Juckbohne“ (benannt von William Roxburgh, † 1815: Carpopogon pruriens).

 

Der entsprechende Ausschnitt aus meinem Wilson. Im heutigen Gujarati hätte ich den Begriff, wenn ich mich nicht verlesen habe, wie folgt zu tanzen: વિષધર્મા (i. e. Mucuna pruriens, synonym von Linné und de Candolle für Carpopogon pruriens). Das erscheint wie ein anderes choreographisches Wort (im Verhältnis etwa von Schwarm zu Schuppen, vgl. oben das Detail aus dem Voynich-Manuskript).


 

Ich sehe, daß Alice und Jelena M. mich aufmerksam anschauen. „Ich mag gar nicht gern eine Traumgestalt von anderen Leuten sein“, sagt die erstere in dem molligen Deutsch der DDR-Übersetzerin Lieselotte Remané, die für die Ausgabe Alice im Wunderland, Alice im Spiegelland von Reclam Leipzig – 19905 – verantwortlich ist (Zitat s. dort, S. 211). Wie feinsinnig, daß sie mich in Übersetzung anspricht, weil das natürlich wesentlich interessanter ist als die rustikale Performance des üblichen essentialistischen Originalsprachen-Fetischismus.

 

Alice scheint diese Gedanken aus meinem Nāgarī-Tanz zu lesen und fragt mit ironischem Oberton in ursprünglichstem Carroll: „How can you go on talking so quietly, head downwards?“ (Carroll 1872, S. 172) „What does it matter where my body happens to be?“, hätte ich antworten sollen. „My mind goes on working all the same. In fact, the more head downwards I am, the more I keep inventing new things.“ Statt dessen konzentriere ich mich mit hochgerecktem Kinn darauf, „ein Pferd von gelblicher Farbe mit schwarzen Knien“ zu tanzen (Wilson 1819, S. 205).

 

Da zwinkert Jelena M. Alice zu und zitiert deren Weißen Ritter, der immer mit „it’s my own invention“ prahlt: „Das Feinste, was ich je erfunden hab’, war ein neuartiger Pudding beim Braten.“ (Carroll 19905, S. 218). „Wie es Euch gefällt“, grinst Alice. Das schmerzt in den Eingeweiden. „Nein“, rufe ich, „bitte nicht!“ Doch das adrett gekleidete Kind läßt seine Katze fallen, legt den Kopf schief und schnurrt unbarmherzig: „And all the men and women merely players.“ Jelena M.: „William und Friedrich, der Rote und der Weiße Ritter, wie sie still an uns vorübergehn.“ Die dort drüben in ihrer Schüssel vor sich hin weichenden Störgedärme rührt das alles nicht.

 

As it isn't, it ain’t. That's logic.

 

Ich tanze, mittlerweile schweißgebadet, Kubera, einen indischen Gott des Reichtums, den man auch „as having three legs and but eight teeth“ (Wilson, S. 206) dargestellt hat, und frage in Richtung Auditorium – leider sind die Sitzreihen jetzt verschwunden – etwas außer Atem: „Wann wird man je Pudding aus nachgebliebenem Wildbraten zubereiten?“ Ich zitiere das gesamte Rezept Nr. 793 aus Molochowetz’ Geschenk für junge Hausfrauen (1877, S. 338) aus dem Gedächtnis, bilde ich mir ein zu träumen, mit einem entschuldigenden Blick in Alices Richtung. Die kommt ein paar Schritte näher: „Sobald Tweedledum und Tweedledee ihn tanzen können.“ (Vgl. dazu Carroll 1872, S. 69ff) Logisch, denke ich. Schon sind sie da:

„I know what you’re thinking about,” said Tweedledum: „but it isn't so, nohow.“
„Contrariwise,“ continued Tweedledee, „if it was so, it might be; and if it were
so, it would be: but as it isn't, it ain’t. That's logic.“
(1872, S. 68)

Und auch wieder weg. Jelena M. zwinkert diesmal mir zu. Ich erlebe große Kunst. Und die Nacht ist noch lang. Wieder meine ich, die Blicke der Abwesenden im vergangenen Publikumsraum zu spüren – als kollektiven „corps-spectateur“ (Pierre Legendre: Die Leidenschaft, ein anderer zu sein [1978], deutsche Übersetzung 2014 in Wien bei Turia+Kant, S. 102): „Man geht davon aus, dass die Organe denken, genau wie in den Liturgien.“ (S. 103) Das ist es! Meine Milz und die Visigia, der Körper des einen, die Därme des „anderen“, sind (sans critique oder vielleicht sogar sans sens critique) in gemeinsamer, ausgesprochen sanskritischer Choreographie miteinander verbunden.

 

Sofort schaltet sich mir eine Erinnerung an Milzschnitten zu, wie sie meine Mutter als Suppeneinlage nach Franz Ruhm zu zaubern pflegte. Legendre dagegen dachte damals, 1978, sehr kritisch in juristisch-psychoanalytisch-politischen Wortnetzen über den Tanz nach – oder vor. Mir regt er, ohne mich wesentlich vom Tanzen abzulenken, eher durch seine Erwähnung des Magnetismus (S. 211) in einer Fußnote zu Athanasius Kircher an.

 

Alice hat John Cage roh verspeist

 

„De Tarantismo, sive de mirabilibus Tarantulae effectibus, eiusque in homine Magnetismo“, plaudert mir der gute Pierre Legendre zu, das entsprechende Unterkapitel in Kirchers Magnes sive de Arte Magnetica – hier ist eine 1641 bei Hermann Scheus in Rom erschienene Ausgabe im Spiel, Legendre führt die kölnische von 1643 an – zitierend („De Tarantismo, sive Tarantula Apulo Phalangio, eiusque Magnetismo, ac mira cum Musica sympathia“, siehe S. 865 ff). Dabei fällt mir auf, daß ich ohne Musik tanze und heute meine Lateinvokabeln zu lernen vergessen habe. So werde ich wohl Kirchers Ars Magna Lucis et Umbrae (16712 bei Johann Jansson, Amsterdam) nie so flüssig lesen können wie Dietmar Daths Nichtkochbuch Leider bin ich tot (2016 bei Suhrkamp)! „If it was so, it might be; and if it were so, it would be: but as it isn't, it ain’t. That's logic.“ Tweedledee. Ich drücke mich spontan um die „grausame Frage des gesellschaftlichen Verzichts auf Täuschung“ (Legendre 2014, S. 73). Ars Magnetica bedeutet für mich etwas anderes als für Kircher oder Legendre.

 

Jelena M. dreht sich zu mir um und verkündet mit verschwörerischem Augenzwinkern, sie werde natürlich demnächst auch einen Band mit dem Titel Подарок молодому мужу nachlegen. Dies sei sie der Zukunft des grandioseren Geschlechts schuldig. Und mir, weil ich so viel Mühe mit dem Tanzen habe. Eifersüchtig springt Alice auf und meint, sie könne diese Art des Magnetismus nicht mehr ertragen und müsse daher jetzt etwas gestehen. Fragende Blicke von Jelena und mir. „Ich habe John Cage gegessen.“ Das hätte niemand bemerkt, wenn „this wicked“ Thomas Harris nicht auf Silence of the Lambs gekommen wäre, ärgert sie sich, und ich bemerke mit leichtem Schaudern, daß ihre Augen zu kleinen Spiegeln geworden sind. „Roh oder gekocht?“, fragt Jelena M. ungerührt.

 

Mythisches Mädchenkochen und Barfußtanzen

 

Sie kann sich das leisten, denn sie bewegt sich in Distanz zu dem, was Claude Lévi-Strauss als die logischeren „primitiven“ (im Vergleich mit den „traditionellen”) Bräuche erfaßt hat: „Das ,Kochen‘ der Mütter und jungen Mädchen entspricht der Forderung einer Vermittlung ihrer Beziehungen zu sich selbst und zur Welt, durch Gebrauch von ,hyperkulturellen‘ Geräten.“ (Mythologica I, 1976 bei Suhrkamp, hier S. 432) Lévi-Strauss zitiert (S. 428) den Ethnologen Arnold van Gennep: „,Wenn [wie beobachtet in der Gegend von Saint-Omer zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Anm.] ein letztgeborenes Mädchen sich als erste verheiratete, dann mußte [… die älteste Schwester] entführt und auf die Wölbung des Ofens gesetzt werden, damit sie, wie man sagte, sich erhitze […].‘“

 

In anderen französisch-belgisch-luxemburgischen Gebieten habe man gesagt, daß eine unverheiratete älteste Schwester „auf dem Hintern des Ofens tanzen“ müsse. In bestimmten englischen Gegenden dagegen mußte „die unverheiratete älteste Tochter ohne Schuhe tanzen“. (S. 429) Im Frankreich des 17. Jahrhunderts gab es Gegenden, in denen das Tanzen ohne Schuhe als „danser à cru“ (cru im Sinn von roh) bezeichnet wurde.

 

„Roh“, gibt Alice mit blitzenden Spiegelaugen zu. „Du hättest ihn kochen können“, meint Jelena M. beinahe etwas tadelnd. „Ich weiß, roh war er ziemlich zäh. Aber er hatte ein angenehmes Pilzaroma in den Gedärmen.“ Gedankenverloren schaut Alice in die Schüssel mit den Visigia, die sich in ihren Augen widerbilden. Jelena erzählt ihr, was – Lévi-Strauss zufolge – der Ethnologe Robert Mowry Zingg von nordmexikanischen Indigenen gelernt hat: „Zwischen das Fleisch und seinen Hunger setzt der Tarahumara das ganze kulturelle System der Küche.“ (S. 430)

 

Musik einer ungewissen Zukunft

 

Warum hat Alice John Cage roh verzehrt und damit die „vermittelnde Funktion des symbolischen Kochens“ gemieden? In seinem Vortrag über nichts sagte Cage, wie mir mein eingebildetes Gedächtnis mitteilt: „[…] nun gibt es Stille und die Wörter erzeugen sie […] Dieses Stück Zeit ist gegliedert. Wir brauchen nicht diese Stille zu fürchten. […] Wir brauchen die Vergangenheit nicht zu zerstören: sie ist fort; jeden Augenblick könnte sie wiederkehren, Gegenwart scheinen und sein. Wäre es eine Wiederholung? Nur wenn wir dächten, wie besäßen sie, aber da wir’s nicht tun, ist sie frei und wir ebenso. Fast jeder weiß von der Zukunft, wie ungewiß sie ist.“ (Zitat aus Ernst Jandls Übersetzung von Silence, der Suhrkamp-Ausgabe von 1995, S. 7 und 9)

 

Jetzt verstehe ich. Alice wollte Jelena M. nicht nachstehen und mir auch etwas Gutes tun: mit Musik! Der erste Band von Lévi-Strauss’ Mythologica baut ganz auf Musik auf, wie schon das Inhaltsverzeichnis zeigt, und mit ihrem großzügigen cagephagen Akt (oder zumindest den Worten ihres vielleicht erfundenen Geständnisses) faltet sie die Zeiten und schleust Musik zu uns dreien auf die Bühne. Gerade rechtzeitig, denn ich bin dabei, eine etwas schwierige Passage zu tanzen, wie das nachfolgende Bild zeigt.

 

Horace Hayman Wilson, Dictionary, Sanscrit And English, op. cit. 1819, S. 470. Selbstverständlich verlangt die Choreographie nicht nur das formale Abtanzen der Nāgarī-Schrift, sondern vor allem auch den Ausdruck des dictionnairen Sinngehalts [vgl. DICTIONNAIRE, subst. masc.: empr. au lat. médiév. dictionarium (ca 1220 Dictionarius de J. de Garlande) dér. du rad. de dictio, onis «action de dire, propos, mode d'expression»]. Daher mache ich als Tänzer entweder eine gute oder – vor allem bei interpretativen Ausrutschern – eine verunglückte Sinnfigur.


 

Mit dem Holzapfel-Begriff (siehe Bild oben) tanze ich endlich zu Musik. Nein, nicht von John Cage. Der ist gegessen. Wir müssen verstehen, daß Alice, hier an Alicias Unort in der Pannonischen Steppe, die Zeit nicht so gefaltet hat, wie man einen Brief falten würde, sondern in zahlreichen Knicken wie einen auffliegenden Origamivogel, der einem plötzlichen Erguß entflattert. Daher der Flügel samt einer Pianistin, die, wie mir Jelena M. zuruft, von der wunderbar traurigen Наталья Серге́евна Бондарчу́к des Jahres 1972 dargestellt wird.

 

Sie beginnt als ob zu spielen, ich sehe ihr Gesicht, nicht aber ihre Finger auf dem heißen Bösendorfer. Ein herrliches Stück, das meinen Körper beflügelt. Ein bißchen störend ruft Jelena, das Stück heiße Ростальгия und sei von einem gewissen Petr Illjitsch Tarkowski (Пётр Ильи́ч Тарко́вский) komponiert.

 

Ein Herd der Zubereitung und des Zitats

 

Das akzeptiere ich sofort, denn Natalya Sergeyevna Bondarchuk trägt ein hinreißendes Gänsehautkleid ohne Ärmel. Alice sitzt knapp vor ihr auf dem Flügel und starrt mit ihren Spiegelaugen in das entrückt wirkende Gesicht der virtuosen Darstellerin. Die Musik kommt von irgendwoher aus den Tiefen des Raums oder von draußen, dem Morgengrauen der Steppe. Jelena M. nutzt den Flügel als Herd und beginnt darauf ein Gericht zuzubereiten, mit dem sie, wie sie mir später verraten wird, Bartolomeo Scappi zitiert, den Koch von Papst Pius IV., der in seinem opulenten Buch Opera (Venezia: Appresso Michele Tramezzino 1570) unter vielem anderen beschreibt, „wie man auf verschiedene Arten Zungen von wilden und zahmen Enten und Gänsen anrichten kann“.

 

Alle Schwerkraft scheint von mir abzulassen. Die Wörter tanzen mich durch den Wilson wie einen Illuminatus, dabei fange ich auch den prallen goldenen Apfel auf, der mir während des Finales der Ростальгия (was als „Rustalghia“ übersetzt werden kann) von, wie ich glaube, Alicia Alonso zugeworfen wird.

 

Wilson 1819, S. 584 (in der gegenüberliegenden Spalte heißt es: „1. Evidently, apparently, manifestly. 2. Visi-ble, apparent […]“.


 

Auf Seite 584 des Dictionary, Sanscrit And English angelangt, falle ich hin. Stille. Ich bilde mir ein, zu träumen, daß ich nicht fertiggeworden bin. Noch bevor mich eine gebührende Niedergeschlagenheit erfüllen kann, höre ich Alices helle Stimme: „Die Visigia sind weich!“ Ich stehe auf, was mich etliche Mühe kostet, und wir versammeln uns um den Bösendorfer Herdflügel, Jelena Iwanowna Molochowets, Natalya Sergeyevna Bondarchuk, Alice und ich. Das Rezept Nr. 665 in Geschenk für junge Hausfrauen (1877) ist ein mit Visigia, Eiern und Fisch gefüllter Pirog. Wir waschen und kochen die Störgedärme in frischem Wasser weich, geben Salz, englischen Pfeffer, Petersilienwurzel und Zwiebel dazu.

 

Zum richtigen Zeitpunkt werden sie abgeseiht, mit kaltem Wasser begossen, fein gehackt, in eine Schüssel gelegt, noch etwas gesalzen, mit Grünwerk und hartgekochten, zerhackten Eiern vermengt. Dann werden ein bis zwei Löffel Butter, ein Löffel fette Bouillon, Dill sowie Petersilienblätter hinzugefügt. All dies mischen wir zu einer Farce zusammen. Dreiviertel derselben werden auf den von Natalya vorbereiteten und von mir ausgerollten Teig gebreitet. Darüber legt Alice ganz feine Scheiben vom rohen, sorgfältig entgräteten, abgetupften und etwas gesalzenen (in diesem Fall:) Schnäpel, die mit der restlichen Farce bestrichen und mit Teig zugedeckt werden.

 

Alicia Alonsos Schwanenzungen-Tarantella

 

Schon breitet sich ein verführerischer Duft im pannonischen Wiedergänger des Gran Teatro de La Habana aus. Alice – ihre nun wieder cameraobscurahaften Augen schimmern schelmisch – rät mir, noch ein wenig auf dem Hintern des Ofens zu tanzen. Sobald der Pirog aufgegangen ist, bestreicht ihn Jelena mit Ei, streut feinen Zwieback darüber und schiebt ihn in den Bösendorfer-Ofen. Nun müssen wir noch eine gute halbe Stunde warten.

 

Das tun wir in einer sich immer weiter entfernenden Zukunft, stelle ich mir zu träumen vor, und schauen zu, wie Alicia Alonso mit entschiedener Distanz eine, wie sie gerade aungekündigt hat, „Schwanenzungen-Tarantella“ tanzt: als bissige Parodie auf Molochowetz’ nun servierbereites Scappi-Zitat und zugleich als spitzen Kommentar zu meinem Nāgarī-Wörterbuchtanz. Obwohl sie ein Gespenst ist, bilde ich mir ein, sollte sie mit uns essen. Wir sind ohnehin sämtlich allein unter den Sternen des Theaters. Der Pirog wird heiß aus dem Bösendorfer serviert, mit „apart dazu gereichter frischer Schmantbutter“.

 


Anmerkung:
Der Hinweis auf Bartolomeo Scappi ist Tobias Roths phantastischem Band Welt der Renaissance, vor kurzem (2020) erschienen bei Galiani in Berlin, zu verdanken. Die zitierten Zungen sind als Vorspeise gedacht und die Pirogen als Hauptgericht. Die – selbstverständlich nicht gebundene – Suppe wird vielleicht Dietmar Dath (oder zumindest einer seiner Ableger) zubereitet haben. Das Dessert kommt, wie wohl kaum anders zu erwarten, von Monsieur Lévi-Strauss, dem Begründer einer künftigen Kunst des symbolischen Kochens.

 

 

(16. 12. 2020)