Eine Kulturstadträtin für Wien

NEUE KULTURPOLITIK ALS GEWISSEN EINER REGIERUNG

Von Helmut Ploebst

Am 12. April hat Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny seinen Rücktritt bekanntgegeben. Mit einem frischen Bürgermeister, Michael Ludwig (SPÖ), wird ein anderer Wind im Kulturleben der österreichischen Hauptstadt sein. Nun herrscht allgemein Neugierde darauf, woher respektive wohin dieser wohl weht. Zumal Mailath-Pokorny über die Medien ausrichten lässt: „Die Bedeutung der Kultur, etwa bei Regierungsverhandlungen, sinkt.“ [1]

 

Das klingt nicht sehr ermutigend. Aber vielleicht wird seinə Nachfolgerın ja ein wenig zuversichtlicher und noch dazu imstande sein, ihren oder seinen Kollegınnen klarzumachen, dass Kultur ganz im Gegenteil außerordentlich relevant ist – schon allein, weil sie alle wie auch immer praktizierte Politik einschließt. Und diese gibt sich gegenwärtig kaum noch als Glanzlicht der Kultur einer Gesellschaft zu erkennen. Tatsächlich zieht eine von postdemokratischen Verhältnissen in den Sinkflug gedrückte Politik, wie bereits seit langem mit atemberaubender Ergebnislosigkeit kritisiert wird, [2] die Strukturen der Kultur mit sich. Realistisch ist daher: Im Selbstverständnis von Kulturpolitikerınnen braucht es einen radikalen Perspektivwechsel. [3]

 

Demokratie ist Diskussion

 

Welche Voraussetzungen müssen eine Kulturstadträtin respektive ein Kulturstadtrat oder einə Kulturministerın mitbringen, um ihre oder seine Funktion in der gegenwärtigen Krise der Politik bestmöglich zu erfüllen? Seltsam, dass es zu dieser Frage bei sämtlichen einschlägigen Personalentscheidungen – nicht nur in Österreich – prinzipell keine ernsthaften Auseinandersetzungen gibt. Irritierend ist das vor allem angesichts einer Gegenwart, in der die Frage danach, was unter „Kultur“ zu verstehen ist, zu einem die gesamte Gesellschaft durchkreuzenden und diese zunehmend auch bestimmenden Thema geworden ist.

 

Unter Ausblendung der gesellschaftlichen Wirklichkeit scheinen Staats-, Bundesländer- und Stadtregierungen jegliche Debatte über das aktuelle Verständnis von Kultur vermeiden zu wollen. Natürlich wird befürchtet, dass eine solche Auseinandersetzung in ein babylonisches Sprachgewirr oder eine ideologische Schlacht ausufern könnte. Kann sein, aber so ist die offene Demokratie: eine ins scheinbar Unüberschaubare reichende Vielfalt von Perspektiven und Positionen inmitten eines anschwellenden Rauschens von Perspektivierungen, Positionierungen und Polemiken. Dieser Überfluss bedeutet nicht, dass zeitgemäße Kulturpolitik der Gesamtheit aller Ansichten und Ansprüche gerecht werden soll. Aber sie muss das von ihr abzudeckende Spektrum mitsamt seinen diskursiven Hintergründen und kommunikativen Dynamiken genau kennen, um aus dieser Expertise Schlüsse ziehen können, die dann als Grundlage ihrer Initiativen und Verwaltung dienen.

 

Wechsel der Perspektive

 

Der hier vorgeschlagene radikale Perspektivwechsel ist grundsätzlich gemeint: Einə Kulturpolitikerın sollte mit starker Rückendeckung das kulturelle Gewissen ihres Landes oder ihrer Stadt repräsentieren, den pragmatischen Kollegınnen aller Bereiche auf die Finger schauen und die kulturellen Eigenschaften der „pluralistisch“ gewordenen Bevölkerung (Isolde Charim) analysieren. [4] Das wäre wohl eine beachtliche Herausforderung, dafür aber etwas wirklich Neues. Und nicht der einzige neu zu verhandelnde Stoff: Ein weiterer findet sich in der Frage, wie heute der Begriff „Kunst“ verstanden wird oder werden soll. Doch auch hier herrscht vielsagendes Schweigen: Wie viele Kulturpolitikerınnen etwa haben sich in jüngerer Zeit dazu geäußert, auf welchen Grundlagen sie zwischen „Kultur“ und „Kunst“ unterscheiden, wie ihr Verständnis von aktueller und historischer Kunst ist, und wie sie dieses Verständnis in welche Auffassung von „Kultur“ positionieren?

 

In der an Politik interessierten Bevölkerung wird schnell Einigung darüber zu erzielen sein, dass ein Regierungsposten auf jeder Ebene fachkompetent zu besetzen ist. Und zwar in doppelter Hinsicht. Einə Kulturpolitikerın beispielsweise muss erstens herausragende Qualitäten in politischer plus adminstrativer Praxis und umfassendes Wissen über politische Theorie besitzen sowie zweitens eine exzellente Expertise hinsichtlich ihres oder seines Fachbereichs vorweisen können. [5] Doch die Politik vermittelt immer wieder den Eindruck, als wäre ein solches Jobprofil unverständlich oder obsolet. Wobei hinzugefügt werden muss, dass der Bereich Kulturpolitik hier, wie so manche abenteuerliche Funktionenrochade in der Vergangenheit gezeigt hat, bloß pars pro toto ist. Schnell steht der Verdacht von „Postenschacher“ im Raum.

 

Protokoll einer Überforderung

 

Um noch einmal auf den scheidenden Stadtrat Andreas Mailath-Pokorny zurückzukommen: Er jedenfalls ist in den allzu langen 17 Jahren seiner Amtszeit eine überzeugende Vermittlung seiner Expertise hinsichtlich der Diskursdynamik von Kultur und Kunst schuldig geblieben. Über seine Qualitäten in administrativer Praxis wird gerade in den Medien abgehandelt, dabei aber bisher übergangen, welche Arbeitsakkumulation dieser Stadtrat bewältigen musste. Zuletzt hatte er die Agenden für Kultur, Wissenschaft und Sport, war aber „ebenso amtsführender Stadtrat für Informations- und Telekommunikationstechnologie, amtsführender Stadtrat für Medien sowie Leiter der Wiener Landeswahlbehörde“. [6]

 

Eine solche Ämteranhäufung – dem Stadtrat sind bisher ganze sieben Magistratsabteilungen (7, 8, 9, 14, 51, 53 und 62) untergeordnet – liest sich wie das Protokoll einer Überforderung und lässt noch dazu vermuten, dass in der Partei, die diese Verteilung verantwortet, akuter Personalmangel herrscht. Die Wiener Sozialdemokratie sollte die Neuformierung der Stadtregierung nutzen und zeigen, dass sie fähig ist, nicht bloß nach bei der Bevölkerung so unbeliebten Partei-Personal-Strategien zu entscheiden. Bis zum 14. Mai, wenn Ludwig den städtischen Gremien seine neue Regierung präsentiert, ist noch viel Spielraum dafür.

 

Ende der Akkumulation

 

Vernünftigerweise sollte bereits im Vorfeld der Nachfolge Mailath-Pokornys eine Ämterentflechtung vorgenommen werden. Denn wenn Bürgermeister Ludwig nun aus Wien eine „Digi-City“ machen will, wäre es sinnvoll, dafür eine eigene, zeitgemäße Magistratsabteilung inklusive der Agenden Medien sowie Informations- und Telekommunikationstechnologie einzurichten und etwa der Finanzstadträtin zu unterstellen. Und noch eine grundsätzliche Frage sei gestattet: Gehört der Sport heute nicht doch eher zum Gesundheits- oder Wirtschaftsressort der Stadt als zur Kultur?

 

Bis dato hat Ludwig bekanntgegeben, dass er – sozusagen als „Leuchtturmprojekte“ – die Neuerrichtung einer Mehrzweckhalle für „Sport und Kultur“ und einer Konzertbühne an der Donau plant. Das klingt kostspielig, und es ist zu hoffen, dass die Finanzen dafür nicht auch aus den Budgets für zeitgenössisches Kunstschaffen abgezwackt werden. Immerhin gibt es im künstlerischen Bereich der künftigen Wiener Kulturpolitik einiges zu diskutieren.

 

Zehn Fragen, die ergebnisorientiert behandelt werden müssten

 

+ Soll die Finanzstadträtin auf die in die Wien Holding integrierten Kultur- und Kunstinstitutionen verzichten dürfen und können die dazu gehörenden Vereinigten Bühnen Wien, das Kunsthaus oder das Jüdische Museum Wien künftig von der Wiener Kulturabteilung betreut werden?
+ Gibt es zumindest für eine der Musicalbühnen Ronacher und Raimundtheater ein anderes Konzept und könnte die andere privatisiert werden?
+ Kann das Volkstheater enger mit dem Tanzquartier Wien und dem Dschungel Theater im Museumsquartier kooperieren?
+ Wird dort die Halle E+G Betriebsgesellschaft endlich in neuer Leitung kuratorisch geführt werden?
+ Wie wird die neue Kulturstadträtin oder der neue Kulturstadtrat mit den drängenden Struktur- und Finanzierungsproblemen der Wiener freien Tanz-, Theater- und Performance-Szene umgehen? Können die seit dem Vorjahr unter dem Titel „Wiener Perspektive“ zusammengeschlossenen Künstlerınnen endlich Gehör finden und mit adäquaten Maßnahmen rechnen?
+ Wann wird in diesem Zusammenhang eine überfällige Theaterreform 2.0 initiiert?
+ Werden Impulstanz, das Brut Theater, das Tanzquartier Wien und das Wuk endlich Anpassungen ihrer Subventionen erhalten?
+ Ist es denkbar, eine zeitgenössisch orientierte Tanz- und Performanceakademie mit genreübergreifendem Ansatz und einem Schwerpunkt Arts Based Research einzurichten?
+ Mit welchen Maßnahmen könnte der akute Brain Drain von Wiens intellektueller Kulturlandschaft aufgehalten werden? Wäre es beispielsweise sinnvoll, die Wissenschaftsabteilung der Stadt durch ein neues Konzept aufzuwerten?
+ Und wie schließlich steht es mit einer eigenen kuratorischen, partizipativen Koordination für die Erfüllung der hochdiversen kulturellen und künstlerischen Bedürfnisse von Wiener Bürgerınnen mit Migrationshintergrund?

 

Neue Motivation

 

Es wäre geradezu lebenswichtig für Wien, die Kulturstadtrats-Personalie diesmal kompetenzbezogen umzusetzen. Und dabei zuerst an eine partei- und klüngelfreie Frau zu denken, die neben einer politischen Begabung möglichst auch eine Laufbahn im Kunstbereich mit österreichischer und internationaler Erfahrung vorzuweisen hat. Die Wiener Kunst als wesentlicher Teil des österreichischen kulturellen Selbstverständnisses braucht Aufwind, neue Motivationen und Ideen, weitreichende Freiräume sowie Vernetzung nach innen und außen. Das würde die Bevölkerung dieser Stadt wirklich verdienen.

Fußnoten:

  1. ^ Zit. aus Der Standard (14.4.2018): https://derstandard.at/2000077918230/Kulturstadtrat-Mailath-Pokorny-Die-Bedeutung-der-Kultur-sinkt; in der Stadtzeitung Falter (18.4.2018) diagnostiziert Mailath-Pokorny darüber hinaus im Zusammenhang mit seinen ersten Jahren als Wiener Kulturstadtrat ab 2001: „Die Feuilleton- und Kulturseiten in den Printmedien wurden schneller reduziert, als die Bedeutung der Printmedien selbst abgenommen hat.“ (S. 29)
  2. ^ Vgl. Crouch, Colin: Postdemokratie. Berlin: Suhrkamp 2008 (engl. Original 2004).
  3. ^ Diesen Perspektivwechsel hätte es bereits vor acht Jahren geben können. Im Jahr 2010 versuchte der Kulturstadt, mit seiner Initiative „Wien denkt weiter“ eine Debatte über Kulturpolitik anzuregen. Mit Facebook-Präsenz (https://www.facebook.com/wiendenktweiter/), einem „Weblog“ (wien-denkt-weiter.at, die Website ist längst offline) und einem breit angelegten Kongress am 16. Juni 2010 – dessen Diskursniveau übrigens von corpus scharf kritisiert wurde – im Wiener Odeon Theater. Der Ansatz der Initiative war bedauerlicherweise nicht grundsätzlich genug angelegt. Schon bald geriet der Austausch ins Stocken, fehlten Motivation und Ideen. Der letzte Eintrag auf der Facebook-Seite von „Wien denkt weiter“ stammt aus dem Jahr 2015. Seitdem herrscht Stille.
  4. ^ Vgl. Charim, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2018.
  5. ^ Es gab auch keine Diskussion darüber, ob und warum sich Gernot Blümel, der österreichische Bundesminister für EU, Kunst, Kultur und Medien in der ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung ab 2017 (angelobt am 8. Jänner 2018), gerade für dieses Amt eignet. Nichts in seinem Lebenslauf weist zum Beispiel darauf hin, dass er beruflich jemals mit Kunst in Berührung gekommen ist. Vgl. https://www.bundeskanzleramt.gv.at/lebenslauf-bundesminister-bluemel (zuletzt eingesehen am 19.4.2018).
  6. ^ Zit. aus www.mailath.at (zuletzt eingesehen am 19.4.2018).

 

(20.4.2018)