Keine Garantie auf Freiheit

Der kurze Weg von der richtigen zur rechten Kunst

Von Helmut Ploebst

Es gibt genügend Zeitzeugen und Dokumente, die belegen können, wie heftig nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre darüber gestritten wurde, was Kunst darstellen, verhandeln und tun darf und was nicht. Das freie Wort, das freie Bild, die Freiheit von Musik, Tanz und Theater – ab den Eighties wurde das wirklich zum Standard, vor allem in den westlichen Demokratien. Und nach ’89 fielen auch die Restriktionen für Kunstschaffende im ehemaligen Ostblock.

 

Dies hätte das Ende einer langen Kulturgeschichte sein können, in der Künstler und vor allem Künstlerinnen um ihre Freiräume kämpfen mussten. Heute könnte nach der Logik dieser Geschichte das Maß an künstlerischer Freiheit der verlässlichste Richtwert für den Zustand einer Demokratie sein. Könnte. Der Konjunktiv kommt nicht von ungefähr. Denn in Demokratien wird auch über „Zumutbarkeit“ diskutiert. Das heißt, bestimmte Interessengruppen formulieren Grenzen dafür, was der Öffentlichkeit gezeigt werden kann und was ihr verborgen werden soll.

 

Aus diesen Formulierungen können Regeln werden, und ab da wird die Praxis des Formulierens von „Grenzen der Zumutbarkeit“ heikel. Wer konsequent demokratisch denkt, wird selbstverständlich sagen: Kunst muss alles darstellen dürfen, aber für die Produzierenden gelten dabei die ganz normalen Gesetze. In diesem Sinn kann etwa ein Snuff-Video kein Kunstwerk sein, weil für seine Herstellung jemand getötet werden muss. Ein simuliertes Snuff-Video dagegen, in dem der Mord schauspielerisch dargestellt wird, kann sehr wohl ein Kunstwerk sein.

 

Darüber lässt sich leicht ein Konsens herstellen, doch es ist nur der Beginn eines komplexen Diskurses, der sich seit den 1980er Jahren verselbständigt hat. Der Kampf um die Freiheit der Kunst schien im Großen und Ganzen gewonnen, aber nun kamen andere Bedenken. Was würde passieren, wenn für die Kunst nun ein Maximum an Freiheit galt? Sobald es „anything goes“ hieße, könnte die Kunst ja zweckfrei oder Selbstzweck sein oder gar für Zwecke missbraucht werden, die nicht im Sinn demokratischen Denkens wären.

 

Wie um dem zuvorzukommen, wurden ethische Maßstäbe an die Kunst gesetzt, die garantieren sollten, dass Kunstwerke und ihre Veröffentlichung die Verbesserung demokratischer Verhältnisse fördern. Maßstäbe, wie sie für progressive Kunstschaffende in ihrem Kampf um Freiheit der Darstellung beinahe selbstverständlich gewesen zu sein schienen. Nach dem – vermeintlichen – Ende dieses Kampfes gehörte dieser immer noch zur Identität der Kunst. Die Voraussetzungen hatten sich zwar verändert, aber die kämpferische Performance sollte weitergehen. Darin sollte Kunst nicht nur darstellen, sondern auch gesellschaftlich wirksam sein.

 

An diesem Punkt verengten sich die Spielfelder für die Performance von künstlerischen Arbeiten. Die zuvor von Künstlerınnen jeweils selbstgewählte Ethik des Widerstands gegen restriktive Gesellschaftsphänomene wurde zur moralischen Verpflichtung, zur ethischen Raison d’Être, schließlich zu einem Maßstab, nachdem Kunst leicht selektiert werden konnte. Das heißt, aus bis in die 1970er Jahre Regeln brechenden Freiheitskämpferıinnen wurden in relativ kurzer Zeit ethische Dienstleisterınnen. Sie hatten sich an ungeschriebene Moralkodizes zu halten, innerhalb derer wieder große Permissivität herrschte. Das funktionierte, weil sich diese Moralkodizes durchaus plausibel anfühlten. Wer wollte nicht etwas Gutes für die Gemeinschaft (und damit auch für sich) tun, aber so wurde auch zur Konvention, dass Kunst, also richtige Kunst, in bestimmte Richtungen hin nicht frei sein durfte.

 

Nun hatte diese Entwicklung mit ihrem Höhepunkt in den 90ern des vergangenen Jahrhunderts viel Positives, aber sie öffnete auch eine Falle. In diesem Jahrzehnt brach der Jugoslawienkrieg aus. Er schien völlig anachronistisch zu sein: Warum schlugen sich mitten in Europa Nationalisten gegenseitig die Köpfe ein, wo doch nach Ende des Kalten Krieges alles auf der Welt zusammenzuwachsen schien? Doch die regionale Verunsicherung nach dem Tod von Josip Broz Tito 1980, dem Fall des Kommunismus 1989 und der Übernahme des einstigen Ostblocks durch die nach Globalisierung strebende westliche Wirtschaftspolitik lud die Nationalismen in dem Gebiet auf, was sich ab 1991 in einem exemplarischen Krieg entlud.

 

Das übrige Europa – Deutschland hatte sich 1990 wiedervereinigt – war von diesem Ereignis völlig überfordert. Denn Jugoslawien zeigte, woran niemand denken wollte: dass hinter gesellschaftlichen Verunsicherungen jederzeit identitätsbildende Nationalismen hochkochen können. Und außerdem, dass lange gewachsene ethnische Durchmischungen sich explosionsartig zu zerstören imstande sind. Heute, 2017, wird die Rückkehr des Nationalismus in den meisten europäischen Ländern immer augenfälliger. Die richtige Kunst hat Reaktionsmuster auf politische Regression nicht einprogrammiert, also reagiert sie bisher kaum auf diese reale Entwicklung. Währenddessen kommen die alten Restriktionen Stück für Stück zurück.

 

Mit Fakten, an die niemand denken mag, ist schwer umzugehen. Während die meisten Künstlerınnen darauf trainiert sind, immer weiter in Richtung Utopia zu tanzen, verzerrt sich der ohnehin brüchige Boden unter ihren Füßen. Politische Mehrheiten verlagern sich nach rechts. Verunsicherung hat sich festgesetzt. Die Europäische Union schlingert, aus Regierungsapparaten ist Knirschen zu vernehmen. Derzeit befindet sich die Kunst überwiegend in Händen von Distribuierenden, die sich vor staatlichen Interessenträgerınnen legitimieren müssen.

 

Diese haben in den vergangenen dreißig Jahren erkannt, dass Kunst, wenn sie richtig sein soll, sich auch als gesellschaftlich nützlich erweisen muss. Dass das ein gefährliches Spiel ist, war in Zeiten angeblicher Sicherheit nur schwer zu erkennen. Neoliberalismus und Sozialdemokratie konnten diese Forderung gleichermaßen unterschreiben. Im ersten Fall diente die Kunst dem Distinktionsgewinn kunstfördernder Unternehmen oder wohlhabender Individuen, die sich auch als ethisch astrein darstellen wollten, im zweiten Fall dem Nachweis der Politik, sie fördere mit öffentlichen Geldern Kunst, die förderlich für die Gemeinschaft ist.

 

Wo gebügelt wird, entstehen Glätten. Die Kunstschaffenden spürten, mit einer Formulierung von Herbert Marcuse ausgedrückt, die Repressivität der ihnen entgegengebrachten Toleranz sehr wohl. Aber sie ernteten wie zum Trost auch Aufmerksamkeit und Anerkennung. Auffälligerweise wurden sie allerdings nie wirklich in die gemeinschaftlichen Versorgungsstrukturen aufgenommen, denn die Regierungen der mittlerweile wirtschaftsliberal gewordenen Staaten wissen um den Sinn des Bügelns. Sich eventuellen Knitterungen unberechenbarer Kunstschaffender auszuliefern, sind sie nicht bereit. Im Gegenteil, wer um öffentliche Finanzierung ansucht, ist heute mit wachsenden administrativen Aufgaben konfrontiert, muss da und dort den wirtschaftlichen Umwegnutzen seiner respektive ihrer Arbeit erklären oder – wie etwa in England – zusätzlich „Community Work“ leisten.

 

So wurden aus den ethischen Anforderungen an eine richtige Kunst, die nun ihre Richtigkeit auf mehreren Ebenen nachweisen muss, bevor sie verwirklicht werden kann, administrative Anforderungen. Das ist an sich bereits ein bedrohliches Szenario. Vor dem Hintergrund der konkreten Rückentwicklung demokratischer Strukturen in mehreren europäischen Staaten müsste diese Kulturpolitik jedoch noch intensiver angezweifelt werden. In den vergangenen Jahren wurden dort entweder schrittweise oder in schnell gesetzten Rochaden einschränkende Maßnahmen gegen Künstlerınnen gesetzt. Erst in Wladimir Putins Russland, danach in Viktor Orbáns Ungarn, dann in Recep Tayyip Erdoğans Türkei, und auch Polen experimentiert mit Stichen gegen Kunst.

 

Die Geburt des Totalitarismus vollzieht sich in diesen nationalistischen Umbrüchen nach jeweils ähnlichen Mustern: Demontage demokratischer Institutionen, Zensur von Medien, Eingriffe in Universitäten und Repressionen gegen Kunstschaffende. Die Proteste von mit Kunst befassten Institutionen und Organisationen im freieren Europa blieben diplomatisch leise.

 

Da will sichtlich niemand Öl ins Feuer gießen und hinter den Restriktionen noch weiter bestehende Verbindungen zusätzlich beschädigen. Oder Künstlerınnen in den betroffenen Ländern eventuell noch mehr gefährden. Zudem stellt sich heraus, dass deren konservative autoritäre Systeme sich von außen ohnehin nicht dreinreden lassen. Trotzdem müssen wir fragen, ob dieses Stillhalten schlussendlich die richtige Haltung ist. Denn es hat auch Weiterungen, die andere Länder betreffen.

 

Alle nationalistischen Rechtsaußen-Parteien – etwa in Österreich, den Niederlanden, Frankreich und in Deutschland – haben bekanntermaßen auch kulturpolitische Agenden. Diese Parteien lernen natürlich von den bestehenden Praktiken beispielsweise in Ungarn oder Russland. Und sie wissen, dass sie, sobald sie an die Macht kämen, durch personelle Umgestaltungen in staatsabhängigen Institutionen und in staatlichen Fördereinrichtungen eines Landes problemlos dessen Kulturproduktion verändern könnten. Der Weg von der richtigen zu einer rechten Kunst wäre sehr kurz.

 

(7.2.2017)