Küssen impossible

ANMERKUNGEN ZU EINIGEM #7

Von Esther Veils

Wie gerne hätte ich deine Hand gehalten. Den Duft deiner Haut mit meinen Fingerspitzen aufgenommen. Die Gänse gezählt, die ein leichter Wind hervorlockt, der durch die feinen Härchen fährt, und mich an ihrem Geschnatter erfreut. An deinem Ohr gelauscht, ganz nah. Natürlich vorher noch den Vorhang aufgezogen, dass ich dich besser hören kann, obwohl ich keine Wölfin bin. (Oder?) Ich wollte erkunden, wo deine Pfade hinführen möchten. Welche Wege hier verlaufen. Der vom Nacken hinab über das Schulterblatt, der irgendwo in der Seite, knapp über der Hüfte, unvermutet – freilich nicht im Sand, aber doch – verläuft. Der, zu dem ein erster Hinweis sich nur ernsthaft Suchenden gleich unter der Achsel erschließt, wohl verborgen, und dem ich beherzt gefolgt wäre über erstaunliche, sanfte und hügelige Landschaften, um bäuchlings zur kleinen Caldera in der Mitte zu gelangen. Auch derjenige, der weit führt durch gestreckte, gewundene und runde Gebiete, dessen Erforschung viel Mut verlangt, aber auch Belohnung verspricht, und von dem jede, die ihn begeht, als eine Andere zurückkehrt.

 

Wie gerne hätte ich all das getan und mehr. Dich meinen Atem spüren lassen und deinen gespürt, jetzt ruhig, jetzt außer sich, dann wieder nur an einem leisen Schnarchen zu erkennen, das manchmal nicht so leise ist, wie ich dir gegenüber behaupte. Wie meines vermutlich auch. Meinen einschlafenden, mehr und mehr kribbelnden Arm gebeten, doch wach zu bleiben, um, so paradox es klingt, deinen Schlaf nicht zu stören, da ich ihn sonst unter dir wegziehen müsste, bevor er mir gänzlich ertaubt. Die Berührung, ein wenig hier und ein bisschen da, das zufällige kurze Zusammentreffen, dem nicht selten Absicht zugrundeliegt, gekostet und genossen, kühlende Wasserspritzer an einem heißen Tag, oder doch Wetterleuchten? Das Prickeln der statischen Entladung, wenn wir einander gerade nahe genug sind, dass der Funke überspringen kann, gleich dem, der mich traf, als ich dich zum ersten Mal sah und wahrnahm, wer du bist.

 

Doch es wurde von hoher Stelle ein allgemeines Betretungs- und Annäherungsverbot erlassen – wohl in abgeschwächter Form mit einem bedeutend geringeren Wirkungsradius, da man wahrscheinlich davon ausging, dass wir nicht alle potenzielle Gewalttäter und Gewalttäterinnen sind. Ob das stimmt, wird sich noch herausstellen. Den Wirkungskreis von Menschen derartig einzuschränken und sie gleichzeitig nur mit ihren engsten Angehörigen zusammen einzusperren, hat zweifellos weitreichende Folgen, die derzeit noch gar nicht eingeschätzt werden können. Und auch, was das Kontaktverbot, das leider mit dem ebenso unglücklichen Namen social distancing Bekanntheit erlangte, während es eigentlich nur um körperlichen Abstand, um eine gewisse Einschränkung des Wirkungskreises und Beachtung unseres räumlichen Verhaltens geht, in Zukunft noch in unseren Köpfen bewirken wird.


In Science Fiction und Fantasy kommt sie immer wieder vor, die Superrasse – gelegentlich auch von der Menschheit selbst vertreten, kurz bevor die Sonne sich zu einem roten Riesen aufbläht –, die sich von der Last des Fleischlichen gelöst hat und als reine Geist-, wahlweise auch Energiewesen existiert. Welche Religion wohl diese kuriose Wunschvorstellung am meisten beeinflusst hat? Jedenfalls sind die Nirvanatiker gewiss gefeit gegen den Befall durch Viren, es sei denn, letztere hätten in den dafür verfügbaren Jahrmillionen eine ebensolche Entwicklung durchlaufen. Kann ja sein. Weshalb sollten kognitive Fähigkeiten nach menschlichem Muster Vorbedingung für die Entkörperung sein? Das wäre zu eng gedacht.


Die Sehnsucht nach der Vergeistigung halte ich für ein Indiz dafür, dass man sich im Körper nicht wohl fühlt. Klar ist er manchmal lästig, aber genauso manchmal sind das auch Haustiere und Wintertage, bloß um alltägliche Beispiele zu nennen. Und sich zu wünschen, vom Körper befreit und Geist allein zu sein, während wir noch nicht einmal mit diesem Geist zurechtkommen, solange er im Körper weilt, birgt allerlei Gefahren – ganz vorne die der Selbstzerstörung, nehme ich an. Das haben viele gewiss schon in den letzten Wochen (am eigenen Leib) erfahren, als weitgehend vom Körper abgeraten wurde und wir mehr als sonst auf den fragilen Geist zurückgeworfen waren, mit dem wir auch in „normalen“ Zeiten oft nichts anzufangen wissen. Und mit den Vielen meine ich weder nur Menschen, die das Denken als Beschäftigung gewöhnt sind, noch nur jene, die vielleicht nicht die gleichen Chancen hatten, den Umgang mit dem Inneren des Kopfes zu erlernen. Es gibt da weder Vorteil noch Vorzug, weil’s ja nicht eigentlich ums Denken geht, sondern ums Sein. Da ist keine Trennung möglich.


Ich jedenfalls bin, und das nicht zuletzt aufgrund der jüngeren Ereignisse, nicht für die Vergeistigung des Körpers, sondern für die Verkörperung des Geistes. Oder vielmehr die gegenseitige Durchdringung zum beiderseitigen Nutzen. Krankheiten entstehen nicht, weil wir uns und einander nahestehen und mögen, und sie verbreiten sich auch nicht aus diesem Grund, sondern deshalb, weil sehr sehr viele Menschen auf engstem Raum beieinander leben; vielleicht auch, weil wir im Strudel der Begeisterung darüber, dass endlich die Neuzeit eingetreten ist, übersehen haben, dass Fortschritt grundsätzlich ein neutraler Begriff ist, den wir aus Gewohnheit positiv bewerten. Doch wie auch Bewegung geht er nicht automatisch nach oben oder führt gar in so ein abstraktes Konzept wie „besser“. Wir sollten dabei nicht übersehen, dass manches, das noch vor fünfzig Jahren fortschrittlich war, heute als nahezu ebenso obsolet gilt wie Steinwerkzeuge. Denen räume ich allerdings größere Chancen zur Wiederkehr ein. Ist dieser Optimismus fehl am Platz?


Also. Ich glaube, wer den Körper nicht achtet, kann das Dasein nicht achten. Statt einer erschrockenen Abwendung wünsche ich mir vermehrte Zuwendung. Ich weiß, mit den vielen Verlockungen ist es nicht leicht, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist. Doch ich weiß auch, dass bei den wichtigen Dingen ganz vorne Berühren und Empfinden stehen. Darum werde ich nicht davor zurückweichen. Ja, ich will dir nahegehen, so wie du mir nahegehst. Ich werde keine Angst haben, wenn deine Lippen ganz dicht an meinen sind. Und deine Haut, dein Gesicht, warm von der Sonne oder kühl im Mondlicht, wird meinem Geist zeigen, wie weit die Welt ist.

 

(1.6.2020)