Ukraine am Ereignishorizont

SCHWARZE SCHACHTEL II: EXPANSION ODER DAS ENDE DES UNVORSTELLBAREN

Von Helmut Ploebst

Vor einigen Jahren wurde im All eine dicke, kleine Tänzerin entdeckt. Sie heißt GN-z11 und ist ungefähr 13,4 Milliarden Jahre alt, also nur 400 Millionen Jahre jünger als das Universum. Messungen mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops ergaben allerdings, daß GN-z11 ganze 32 Milliarden Lichtjahre entfernt von der Milchstraße tanzt. Warum um Einsteins Willen – nichts an Materie bewegt sich schneller als das Licht – ist das möglich? Richtig: Weil der immaterielle Raum selbst sich eben schneller bewegen kann als Licht.

 

Die Galaxie GN-z11 ist das älteste beobachtete kosmische Objekt. Es tanzt schneller als das Licht von uns weg.                        Foto: NASA

 

Das beobachtbare Universum mit seiner Ausdehnung von etwa 92 Milliarden Lichtjahren expandiert in alle Richtungen, ab einer gewissen Entfernung von uns – jenseits des kosmischen Ereignishorizonts – tut es das mit Überlichtgeschwindigkeit. Wir werden nie wissen, ob GN-z11 auch heute noch tanzt, so wie wir sie jetzt sehen. Nur so viel: Weil dieses Objekt immer schneller immer weiter von uns weggezogen wird, verschwindet irgendwann auch sein Bild. Aber dann könnte es die Erde vielleicht schon nicht mehr geben, denn unsere ebenfalls expandierende Sonne wird sie sich nach einem längeren Röstprozeß, der in etwa 900 Millionen Jahren beginnen soll, schlußendlich einverleiben.

 

Die Sonne ist keine Bräunungslampe, sondern ein auf Expansion zielender Kernfusionsreaktor.                                                     Foto: NASA

 

Also keine Sorge. Bis dahin hat die Spezies Mensch noch Zeit genug, ihren Lebensraum und sich selbst zu sichern oder auszulöschen. Aktuell sind die Aussichten hienieden leider wenig entspannend. Wird das Originalbild von GN-z11 um 90° nach links gekippt, dann erinnert der Umriß der Tänzerin so ungefähr an ein Land, in dem gerade vor aller Augen Geschichte wütet: die Ukraine. Für die Annalen sei angemerkt, daß dieser unabhängige demokratische Staat am 24. Februar 2022 durch die von Wladimir Putin mißbrauchte Russische Förderation militärisch angegriffen wurde.

 

Bei den hier angestellten Überlegungen ist die Metapher der Expansion relevant. Putin folgt einer politischen Idee zur Ausweitung des russischen Raumes, also eines Territoriums. Der blutige Landraub an der Ukraine ist in aller Munde. Die Expansion des Raums politischer Vorstellungen über den Ereignishorizont der bisherigen Verhältnisse hinaus allerdings bleibt gemeinhin ähnlich schwer verständlich wie der Weltraum.

 

Die Tänzerin in „künstlerischer“ Darstellung, um 90° gekippt, und die Ukraine.                                                                 Foto (Montage): Ploebst

 

Putins geopolitische Dehnung verläuft, wie unsere Teleskopie ins All, aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Und ähnlich wie im Universum ist die Expansion dieses Raums des politischen Verständnisses von einer „dunklen Energie“ verursacht, wenn man Putins Ideologie und Motivation so betrachten will. Die Ausdehnung nationalen Territoriums mit militärischer Gewalt galt bisher als in ein Jenseits des historischen Horizonts verbannte Methode. Falsch gedacht. Damit bestätigt sich: Die Idee der „Nachgeschichte“ von Vilém Flusser bis Francis Fukuyama und anderen ist zum wiederholten Mal und diesmal endgültig erloschen.

 

Imperialistischer Irrwitz

 

Das wäre vorhersehbar gewesen. Denn ausgerechnet nach dem Überfall des Irak auf Kuwait 1990 (es folgte der Erste Irakkrieg) und nach Ausbruch des Jugoslawienkriegs 1991 wurde halluziniert, daß post 1989 doch kein Land mehr ein anderes überfallen würde. Der Wahn von einem „Großserbien“ existiert trotzdem bis heute. Drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat man sich im Westen eingebildet, der imperialistische Irrwitz „Großrussland“ der putinschen Propaganda wäre ebenso abwegig. Es ist nicht so, daß man zu beschränkt wäre, die Potentiale der Geschichte zu erkennen. Die Lage stellt sich als schlimmer dar: Das eigene Wissen wird im Diskurs einer pop-politisch verengten Postmoderne ignoriert, desavouiert und aktiv bekämpft.

 

Putin bombardiert „sein“ Rußland seit Jahren in einen von feudalen Irrlichtern geprägten Zustand zurück, um über einen archaischen, von Iwan Iljin bis Alexander Dugin geprägten Kulturbegriff ganz praktischen Landgewinn zu erzielen. Und natürlich, um Rache am Westen für die Übervorteilung der UdSSR-Nachfolge nach dem Zerfall der Sowjetunion zu üben. Deutschlands Außenminister Hans-Dietrich Genscher sagte 1990, „daß nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten – das gilt übrigens nicht nur für in Bezug auf die DDR, die wir da nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell“.

 

Imperator der Falschmeldungen

 

Trotzdem hat Wladimir Putin mit seiner Behauptung, der „dekadente“ Westen sei ein „Imperium der Lügen“, schlechte Karten. Man hat 1990 einfach diplomatisch getrickst. Umso ironischer wirkt nun, daß ausufernde Präsident den wenig integren Konkurrenten nun ausgerechnet auf dieser Lügen-Ebene überbietet und ihm nach der Umwandlung seines Landes in eine Diktatur und dem militärischen Überfall auf die Ukraine die Performance moralischer Überlegenheit verleiht. Die Rechtfertigung des kalt geifernden Präsidenten für den Krieg erfolgte als Akt postfaktischer Propaganda in Form von haarsträubend geschichtsklitternden Fernsehansprachen ab dem 21. Februar 2022.

 

In Wahrheit ist dieser Krieg – wie jede andere militärische Aggression – durch nichts zu rechtfertigen. Auch der Versuch, ein Bedrohungsszenario für das unter Putin hochgerüstete Rußland durch die vergleichsweise schwache Ukraine aufzubauen, gehört ins Reich der Täter-Opfer-Umkehr. Putin, als ehemaliger Geheimdienstler des KGB und dessen Nachfolger FSB, den er 1998/99 leitete, setzt als Imperator der Falschmeldungen auf grobkörnige Desinformation, die zwar für jene, die es besser wissen (wollen), leicht zu durchschauen ist, anderen jedoch, die ihm folgen (wollen), als affirmative Informationsgrundlage ausreicht.

 

Der Westen nach 1989: Partytime!

 

Dem Westen wiederum fiel es schwer, andere Perspektiven als die populären eigenen im Blick zu behalten. Genau der realistische Blick wäre aber wichtig gewesen, um die Positionen und politischen Prozesse im Osten und im Süden richtig zu verstehen. Doch nach 1989 hatte es in Europa und den USA kein Halten mehr gegeben: Das Modell der liberalen Demokratien würde sich global durchsetzen und Ende der Geschichte, deren sich weitender Ereignishorizont mit jenem der damals neuen politischen Konstellationen zusammenzufallen schien.

 

Von da an begann auch der Westen sich zu verändern. Partytime! Mit dem Start des Internet entfesselte er eine digitale Weltrevolution, die auch eine industrielle war, und mit der Verbreitung der Sozialen Medien begann er seine Kommunikationsrevolution, die sich auch als eine politische erweisen sollte. Von den USA als der einzig verbliebenen Supermacht wurde gefaselt, als ob dies nun für lange Zeit gültig bliebe. Rußland und China haben genau zugehört.

Die Digitalrevolution brachte eine neue Technologie, die bereits hervorragend in die Aufbruchstimmung des Neoliberalismus ab Beginn der 1980er Jahre gepaßt hatte. Damals wurde neue ökonomische Ideologie geboren, die schnell den politischen Raum eroberte und überdehnte. Überall taten sich freie Märkte auf und erzeugten rund um den Globus ein neues Lebensgefühl uneingeschränkter Prosperität. Die soziale Linke fühlte sich überflüssig und transformierte in eine kulturelle Linke, die mit dem sich bald ausbildenden linksliberalen Flügel des großen neoliberalen Geiers verschmolz. Es war der Boom der alles kapitalisierenden „Babyboomer“, und dieser riß auch die Künste mit sich, deren Märkte zusammen mit der gesamten Wirtschaftswelt zu wuchern begannen.

 

Vernebelter Verstand

 

Zu den Folgen dieses Aufschwungs zählt auch ein Narzißmus, der erst zum Markenzeichen eines neuen, popkulturellen „Lifestyle“ wurde und sich akademisch mit der philosophischen Postmoderne verband, die ab den späten Eighties ihre Wiedergeburt in Europa feierte. Die Party wurde zur Kunstform erklärt, Europa ließ sich von den USA dominieren, Staatspolitik unterwarf sich der Wirtschaft, und dem Westen vernebelte ein finanzkapitalistischer Rauschzustand den Verstand. Es ist ein Rausch mit Resilienz, der allen Krisen zum Trotz – von 9/11 über die Finanzkrise bis zur Pandemie und Klimakatastrophe – bis heute anhält.

 

Wenigstens aus heutiger Perspektive sollte es nicht mehr verblüffen, daß sich erst der erzreaktionäre politische Islam, dann der Osten gegen diesen Machtrausch wandten und daß im eigenen Kulturbereich eine Dynamik aus anschwellendem Rechtsradikalismus und neuem Moralismus entstanden ist. Kein Wunder, daß dem Westen jetzt – wenn auch mittlerweile zu Unrecht – gar die Alleinverantwortung für den Klimakollaps zugeschoben wird. Da Politik und Kultur neoliberal geworden sind und sich von einer Wirtschaftselite so sehr an die Kandare haben nehmen lassen, daß keine glaubwürdige Opposition mehr wachsen konnte, kauft der Rest der Welt dem demokratischen Westen seine Werte nicht mehr ab.

 

Anhäufung von Aufmerksamkeitskapital

 

Zuletzt stellt sich heraus, daß die beiden Weltrevolutionen, die digitale und die kommunikative, begonnen haben, ihre eigenen Kinder zu fressen: Die heute globalen digitalen Industrien haben Monstren geschaffen, die sich als umfassende Kontrollsysteme nutzen lassen, Massen-Desinformation produzieren, neue Formen des Krieges begünstigen und durch ihren enormen Energiebedarf dazu beitragen, unseren Lebensraum zu zerstören. Das Unbehagen an dieser Kultur wächst während des heute rasant progressiven Zerfalls der Globalisierung von Krise zu Krise an. Aus dieser Dynamik schnell aufeinanderfolgender oder einander überlappender Desaster wird der Planet in absehbarer Zeit wohl nicht mehr herauskommen.

 

Ausgerechnet in einer dermaßen prekären Situation setzt die postmoderne akademische Publikationswirtschaft seit Jahren alles daran, den Ereignishorizont des Wirklichen über das überprüfbare Faktische hinaus in die Befindlichkeitsräume des Subjektiven zu dehnen. Was als emanzipatives Spiel gegen die Krusten des Modernismus begonnen hat, wurde im vergangenen Jahrzehnt zum verantwortungslosen Willkürakt gegen den Erkenntnisbegriff an sich und zu einem Supermarkt des Narzißmus, in dem es pop-politisch um die Spaltung unserer Gesellschaften geht.

 

Im Fleisch aller Kulturbegriffe

 

Der prominenteste Praktiker der desavouierten Wirklichkeit war bisher das Politikdesaster Donald Trump, Nutzer „alternativer Fakten“ im philosophisch, ökonomisch und technologisch überdehnten Ereignishorizont dessen, was wahr sein kann. Zu den Opfern des postfaktischen Zeitalters zählen Verschwörungsgläubige aller Art, besonders jene, die sich in panische Angst vor den Covid-Impfungen treiben ließen. Die historische Kriegspropaganda wirkt heute wie der Vorläufer unserer postmodernen Entwirklichung. Ein berühmt gewordenes Zitat, das einem US-Senator, Hiram Johnson, zugeschrieben wird, besagt: „Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.“ Und weil die Postmoderne vor allem jede Form der Wahrheit und das Verständnis von Wirklichkeit torpediert hat, sollte heute untersucht werden, ob sie schlußendlich zur Kriegstreiberin geworden ist.

 

Die Dehnung der Ereignishorizonte sowohl des Wirklichen als auch des Raums des politischen Verständnisses ist sicher nicht monokausal verursacht. Denn Einbildungen waren schon immer das Fleisch aller Kulturbegriffe. Doch jetzt sind die kulturellen Eliten überfordert von der Komplexität der globalen Dynamiken. Daher verlieren sie sich allzu oft in unübersichtlichen und engstirnigen Debatten und versuchen nur noch, auf dem Emotionalisierungsmarkt moralspekulativ mehr und mehr Aufmerksamkeitskapital anzuhäufen. Akademisches „Attention Mining“ ist, ausgehend von den USA, zu einem zweifelhaften Charakteristikum des 21. Jahrhunderts geworden.

 

Ausdehnung bei gleichzeitiger Schrumpfung

 

Das Versagen der kulturellen und politischen Eliten manifestiert sich ebenso deutlich an einem weiteren, wesentlich gravierenderen Problem, das seit Beginn des „Wirtschaftswunders“ immer drastischere Ausmaße angenommen hat. Der jüngste, am 28. Februar 2022 kommunizierte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), des Weltklimarates der Vereinten Nationen, stellt – nachzulesen auf der Website des IPCC – unserem bisherigen Umgang mit dem Lebensraum Erde ein vernichtendes Zeugnis aus.

 

Obwohl nun die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs unseres gesamten Lebensraums noch einmal anschaulich vor Augen geführt wird, als ein Prozeß, der seit Jahrzehnten und immer radikaler in vollem Gange ist und dessen Konsequenzen sich immer drastischer und häufiger zeigen, zaudern die ökonomischen, politischen und kulturellen Eliten nach wie vor, versuchen aufzuschieben, zu lavieren und zu relativieren (die aktuelle Situation wird diesen Trend nachhaltig verstärken). Sie treiben den Ereignishorizont des Wirklichen in das Paradoxon einer wachsenden Ausdehnung bei gleichzeitiger Schrumpfung: Die Erfaßbarkeit des Wirklichen scheint in größte Distanz zu entfliehen, während die menschliche Fähigkeit, dieses Wirkliche zu erfassen, sich zunehmend verengt.

 

Messier 87*: Die erste Aufnahme des Schattens eines Schwarzen Lochs.                                                                                             Foto: ESO

 

Wer gerade voll Ekel auf das Kriegsgeschehen starrt und dabei die Klimakrise, die Ausfälle putinverehrender Rechtsradikaler oder bestimmte destruktive Diskurse der pop-politischen „Humanities“ nicht vergißt, könnte nach einem Blick in die Sterne neue Horizonte und, wie angesichts von GN-z11, weitere Perspektiven oder ein anderes Gefühl für reale Größenordnungen finden. Messier 87* mit seinen etwa 6,5 Milliarden Sonnenmassen zum Beispiel ist das Schwarze Loch im Zentrum der 55 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernten Galaxie M87 im Sternbild Jungfrau. Innerhalb des Ereignishorizonts von M87* fände beinahe unser gesamtes Sonnensystem Platz. 2019 gelang es nach jahrelangem, großem Aufwand und internationaler Kooperation, eine Fotografie (des Schattens) dieses Schwarzen Lochs vorzustellen. Messier 87* ist als Bild (nicht) zu sehen und doch keine Einbildung oder Fiktion. Das Foto scheint – poetisch betrachtet – ein gigantisches Auge zu zeigen, wie es knapp über seine Betrachter hinwegblickt.

 

(10.3.2022)