Zur Zukunft des Behindertseins

DIE HERAUSFORDERUNGEN DER DIGITALEN INKLUSION

Von Helmut Ploebst

Über den Satz „wir sind alle behindert“, der ab und zu – mit besten Absichten – geäußert wird, lohnt es sich, eingehend nachzudenken. Der Berliner Aktivist Raul Aguayo-Krauthausen beispielsweise wird in einem Artikel der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit so zitiert: „Wir brauchen immer Hilfe. Entweder als Kind oder als Greis. Und dazwischen gibt es eine Zeit, in der die meisten von uns nicht behindert sind. Es gibt also gar nicht diese Dichotomie zwischen behindert und nichtbehindert, sondern nur zwischen behindert und zeitweise nicht behindert.“ [1] Krauthausen nutzt aufgrund seiner erblich bedingten Glasknochenkrankheit einen Rollstuhl.

 

Szene aus Doris Uhlichs Stück „Every Body Electric“, siehe Fußnoten 4 und 10.                                                                 Foto: Alexi Pelekanos

 

Natürlich sind Babies auf Kinderwagen, Tragetücher oder ähnliches angewiesen, dazu noch auf die Betreuung ihrer Eltern oder entsprechender Ersatzpersonen, ohne deren Hilfe sie nicht überleben könnten. Da dies jedoch in der Natur des menschlichen Lebenszyklen liegt, ist es fatal, zu behaupten, sie seien deswegen behindert. Babysein ist keine Krankheit. Im Unterschied dazu brauchen manche Menschen von Beginn ihres Lebens an besondere Betreuung – weil sie eine tatsächliche Behinderung in Form einer Krankheit haben. Wie eben auch Krauthausen, der sich auf eine sehr weit gefasste Definition der Behinderung des österreichischen Erziehungswissenschaftlers Volker Schönwiese bezieht, den er mit dem Satz zitiert: „Behindert ist, wer Hilfe braucht.“

 

Diese spezifisch sozialpolitische Formulierung scheint wie eine paradoxe Schale über Beschreibungen von krankheitsbedingten Behinderungen gelegt. Doch das Ziel des sozialpolitischen Ausdrucks ist die Aufforderung zur selbstverständlichen Förderung der Integration funktional Behinderter in einer Gesellschaft aus überwiegend – vermeintlich – „Nichtbehinderten“. Die von Krauthausen erwähnte „Dichotomie zwischen behindert und nichtbehindert“ zielt kritisch auf eine katastrophale Selektionsidee, die die europäischen Gesellschaften im Biologismus des 19. und 20. Jahrhunderts einklammert. Bis heute nistet der gesellschaftliche Aspekt von Herbert Spencers „Survival of the fittest“ [2] in den Systemen der notdürftigen Sozialpolitiken auch der reichsten Staaten. Das betrifft nicht nur körperlich oder geistig Behinderte, sondern eben auch Kinder, Kranke und vor allem Alte in weitreichendem Ausmaß. [3]

 

Systemfehler der Demokratie

 

Dem demokratischen Grundprinzip der Gleichheit folgend, gelten für alle Menschen in einer Gesellschaft dieselben Rechte. Was auch bedeuten müsste, dass die Gesellschaft diesen Anspruch mit sämtlichen verfügbaren Kräften für ihre Gesamtheit sichern müsste. Eine effizienzbedingt wertende Aufspaltung der Bevölkerung in Behinderte – Nichtbehinderte, [4] Alte – Erwachsene – Kinder oder Gesunde – Kranke ist, wie die aktuell erfahrbare Realität zeigt, ein schwerer demokratiepolitischer Systemfehler.

 

Dieser Fehler lässt sich durchaus darstellen. Die Ausgangssituation dafür ist, dass sich in komplexen Sozietäten jedes einzelne, auch das selbständigste Individuum zu jeder Zeit seines Lebens auf die Hilfe sozialer Organisation angewiesen sieht. Anders formuliert: Ohne die zahlreichen infrastrukturellen Einrichtungen, die diese Organisation in den hochindustriellen Ländern entwickelt hat, wären mittlerweile alle von ihr Verwalteten lebensunfähig – kein Trinken, kein Essen, kein Dach überm Kopf, weder Kleidung noch Werkzeug oder gar Krankenversorgung.

 

Prinzipiell brächte die Abhängigkeit von den kommerziellen oder gouvernementalen Diensten innerhalb der demokratischen Gesellschaftsorganisation den Einzelnen und der Gemeinschaft große Vorteile. Das gilt aber nur, solange die Verhältnisse zwischen den die verschiedenen Infrastrukturen bewerkstelligenden Institutionen und ihren Nutzerınnen möglichst ausgewogen bleiben: Solange also Regierungen ihren Gemeinschaften dienen, die staatlichen Institutionen zum Wohl der Bevölkerung handeln und die Wirtschaft reale Bedürfnisse von Konsumenten abdeckt.

 

Ideal der Anpassung

 

Richtig gelungen ist das noch nie, obwohl all die bisher entworfenen Pläne zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die einschlägige Reflexion und Kritik große Bibliotheken füllen könnten. Immerhin aber sind merkliche Fortschritte im Vergleich mit Zuständen noch vor, sagen wir, einem halben Jahrhundert festzustellen. Vor allem, weil die Organisation von menschlichen Gemeinschaften in wesentlichen Aspekten auch zu vermeintlich seligen Zeiten des Wohlfahrtsstaates immer noch „behindert“ war. Andererseits nehmen behindernde Dynamiken seit einiger Zeit wieder zu. Denn das erwähnte spencersche Diktum vom „Überleben der Angepasstesten“ (Gesündesten, Leistungsfähigsten, Geeignetsten und Attraktivsten) [5] kehrt als Praxis des körperlichen „enhancement“ im soziopolitischen Konzept des politischen Wirtschaftsliberalismus zurück.

 

Dieser Wiedergänger kam in Kaisers neuen Kleidern als digitale Umwälzung der Kommunikation daher, nachdem 1989 das World Wide Web erfunden und 1991 weltweit verfügbar gemacht worden war. Ausgerechnet in derselben Zeit öffnete sich der Eiserne Vorhang, und der Kalte Krieg trat ab. Der Sieg der vom britischen Thatcherismus und den US-Reaganomics bestärkten Marktwirtschaft überlagerte damals noch das, was sich in den deregulierten Märkten als die eigentliche Revolution dieser Zeit erweisen sollte: die kommende „Vernetzung“ der globalen Gesellschaften.

 

Der Untergang der totalitären Planwirtschaft versetzte die Ideologınnen des ungebremsten Konsums in einen Rausch, die Ideologınnen des Kommunismus hingegen verstummten oder zogen sich in die scheinbar geschützten Areale der „Kulturarbeit“ zurück. In der Folge verwandelte sich die sozialistische in eine moralistische Linke. So entstand ein politisches Vakuum, in das die Ideologien des Neoliberalismus, der extremen Rechten und der digitalen Revolution Einzug hielten.

 

Wetten auf Dienstleistungen

 

Zur Jahrtausendwende schien es, als setzte sich die Erkenntnis durch, dass unterschiedliche Komplexitäten neben- und miteinander zu existieren imstande wären. Als könnte der Umgang mit diesen am „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama, 1992) in umfassenden Großversuchen geübt werden. Doch spätestens seit Beginn des Irakkriegs 2002 ist zu bezweifeltn, dass solche Versuche je eine Option waren. Denn Fukuyamas Idee erwies sich als Verwechslung. Was tatsächlich folgte, war das Ende der Politik in Form einer Ablöse durch eine neoliberale „Postdemokratie“ (Colin Crouch) in den industriellen Gesellschaften.

 

Die Folgen sind, wie nun darzustellen ist, haarsträubend. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Abhängigkeit von den kommerziellen oder gouvernementalen Diensten der demokratischen Organisation in einer wachsenden Anzahl von Staaten zur komfortablen Norm geworden. Doch während der 1980er Jahre verwandelten sich die westlichen Industriestaaten in spekulative Dienstleistungsgesellschaften, die laufend auf neue Infrastrukturen wetteten und das Feld dieser Abhängigkeiten explosionsartig erweiterten.

 

Für viele körperbehinderte Menschen hat die seit Mitte der 1970er Jahre stattfindende „dritte industrielle Revolution“ [6] in den reichen Ländern dieser Welt eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen gebracht, vor allem in der Weiterentwicklung der prothetischen Technologie. Dabei wird seit einigen Jahren immer deutlicher sichtbar, dass die Körper dieser Menschen missbräuchlich zu Prototypen redefiniert werden, mit denen sich neue Märkte erschließen und Technologien testen lassen.

 

Der Posthumanismus ist menschenverachtend

 

Auffällig ist diesbezüglich ein doppelter Bedeutungswandel des griechischen Begriffs πρόσθεσις (prósthesis, wörtlich: Hinzusetzung). Er stand ursprünglich für Zusatz und Vermehrung. Erst ab dem 18. Jahrhundert erhielt er als Lehnwort „Prothese“ seine spezifische Interpretation im Sinn des „künstlichen Ersatzes für einen Körperteil“. In der neueren Diskursivierung des mit dem deutschen bedeutungsgleichen englischen Begriffs „prosthesis“ stellt sich heraus, dass die angloamerikanische postmoderne Kulturtheorie (unter anderen Elizabeth Grosz und Elaine Scarry) nicht mehr zwischen Ersatz und Zusatz unterscheiden kann oder will.

 

Dieser den Ersatz abwertenden und damit das Kranksein ausblendenden Gleichsetzung muss entgegengehalten werden, dass etwa der Rollstuhl und ein Bürosessel mit Rollen weiterhin völlig unterschiedliche Körpererweiterungen sind. Ersterer dient tatsächlich seiner Bestimmung als Prothese im Sinn eines Beinersatzes, der andere dagegen bloß als ein den Sitzkomfort beeinflussendes Gestell. Das Verschieben des Zusatzes auf die Ebene des Ersatzes, aus dem Luxus in den Mangel deckt sich ganz offensichtlich direkt mit der neoliberalen Strategie, den Körper generell als defekte Entität zu fixieren, die künstlich durch „enhancement“ zu optimieren ist. [7]

 

Unter dieser Perspektive entbößt sich der technizistische Posthumanismus als chamouflierte Fortsetzung des nationalsozialistischen Biologismus und damit als hochtoxische, menschenverachtende Ideologie, die sich aus einem wirren Theoriematsch speist, der vor allem im angloamerikanischen Raum produziert wird. Bei diesem akademisch und wirtschaftlich lukrativen Missbrauch geht es nicht mehr um die Emanzipation des behinderten Körpers und seine Gleichstellung mit dem vermeintlich nicht behinderten, also nicht mehr um reale Integration einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe. Sondern um die praktische Desintegration des menschlichen Körpers insgesamt aus sich selbst mit Hilfe technologischer Wahnvorstellungen: von Hyperanatomien und angeblich überlegener künstlicher Intelligenz über den extensiv jugendlichen, beliebig veränderlichen Leib bis hin zu Unsterblichkeitsphantasien. Diese Entwicklung wird unter anderem von einigen der größten Internetkonzerne des Silicon Valley wie Alphabet (ein Subunternehmen dieses Konglomerats ist Google) befeuert.

 

Im Netz der „Vernetzung“

 

Zur Erinnerung: Noch vor Beginn der 1990er Jahre hat niemand für sein oder ihr Alltagsleben Internet, Social Media und Smart Phones gesucht oder gebraucht. Im Gegenteil, das soziale Miteinander war direkter, intimer und freier. Heute ist so gut wie die gesamte Weltbevölkerung der „Vernetzung“ ins Netz gegangen und von deren hegemonialen Kommunikationsmitteln abhängig gemacht. Den ehemals lokalen und partikulären Abhängigkeiten wurde eine übergreifende „Omnidependenz“ hinzugefügt. Die „Hilfe“ der exzessiven Dienstleistung wurde den verführten Gesellschaften aufgedrängt, und tatsächlich geraten deren Mitglieder nun in Zustände akuter „Behinderung“, falls ihnen Amazon, Google, Facebook oder das Smartphone abhanden kommen.

 

Parallel dazu erleben vor allem die Industriestaaten unter anderem einen ökonomistischen Kreuzzug gegen Bildungsfreiheit und individuelle Gestaltbarkeit der eigenen Biographie. Widerstandslos unterwerfen sie sich einem „elektronischen Kolonialismus“ [8] und der sukzessiven Umwandlung ihrer Medienlandschaft von einem System der Kritik in eines der konsumistischen Affirmation. Und wie geblendet oder bestochen lassen diese Staaten zu, dass ihre Bevölkerungen permanenten Menschenversuchen unterzogen werden. Kinder wie Erwachsene dienen als Versuchskaninchen für Tests und Anwendungen der Big-Data-Wirtschaft.

 

Diese Tests zielen auf die Umsetzung eines Totalitarismus, der aktuell von der Volksrepublik China in Form eines „Sozialkreditsystems“ erprobt wird. Vor einer ähnlichen Entwicklung auch im Westen wird seit Jahren gewarnt. Doch verwirrt durch Betrug – etwa mit der lange erhobenen falschen Behauptung, das Internet könnte nicht kontrolliert werden – und durch das Bedienen sozialromantischer Simulakren von „Informationsfreiheit für alle“, also durch die gute alte, hier zum Selbstläufer ausgebaute technofuturistische Propaganda, wollten sich gerade auch viele Gebildete und Intellektuelle dem vermeintlich fortschrittlichen Zug der Zeit nicht entziehen. Sondern lieber aufspringen und mitprofitieren, geradeso wie ab 1930 all jene Akademiker (Juristen, Mediziner, Natur- wie Geisteswissenschaftler) in Deutschland und in Österreich, die maßgeblich dazu beitrugen, den Nationalsozialismus großzumachen. [9]

 

Prothesen als Public Relations

 

Da erscheint es wie eine historische Groteske, dass nun, am Beginn einer Phase der Ernüchterung vor den sozialen Umständen, die der politische Neoliberalismus zusammen mit der Digitalwirtschaft mit sich bringen, ausgerechnet die nationalistische politische Rechte an die Macht zurückkehrt. Das gelingt ihr, weil sie vorgibt, sich für die wachsende Zahl enttäuschter „Modernisierungsverlierer“ (wie liberale Medien verächtlich formulieren) einsetzen zu wollen. In China führt ein sich listig immer noch kommunistisch titulierendes Regime mit Hilfe von zweckangepassten Errungenschaften des Silicon Valley eine bisher beispiellose Überwachungsdiktatur ein.

 

In Europa könnte eine smartgespülte Rechte, wie sie sich gerade rasant entwickelt, dieses politische Projekt in Angriff nehmen, während die Linke in exzessivem Moralismus oder paralytischer Verdrängung versinkt. Nie wieder wird es in China eine Befreiungsbewegung geben wie jene der Studentınnenproteste am Tian’anmenplatz, die am 3. und 4. Juni 1989 blutig niedergeschlagen wurde, denn: Big Data is watching now. Mit dieser Inklusion wird Big Data allen Widerstand bereits im Vorfeld zu unterbinden helfen, während die chinesische Dienstleistungsgesellschaft weiter blüht und gedeiht.

 

Die schönen Computerchip-Prothesen, die Cyborgisierung des Körpers, die Exoskelette für Gelähmte – all die vielversprechende Technologie existiert leider nur als Public Relations zur Weiterentwicklung dieser Technologie. [10] Und auch wenn Google beispielsweise eine ausgesprochen nützliche und auch von Raul Aguayo-Krauthausen promotete „Wheelmap“ für Behinderte unterstützt, geschieht das nicht aus Gründen sozialen Engagements. Sondern, um dem Konzern mehr Daten zu verschaffen, die sich gut zu Geld machen lassen, und das Netz der Überwachung aller noch dichter zu knüpfen.

 

Verkrüppelung der Kinder

 

Die an ihr autoritäres Regime angepasste Bevölkerung des hochtechnisierten China wird gerade überrumpelt. Für das politische System ist das offenbar keine wirklich schwierige Aufgabe. Im Westen existieren noch Spielräume, aber auch diese werden zunehmend verengt – und zwar in dem Maß, in dem sich die Bevölkerungen weiterhin durch die digitalen Technologien zu „Behinderten“ machen lassen. Und in dem Maß, in dem Kinder, zu „digital natives“ degradiert, in die elektrischen Opiumlabyrinthe des Smartphone und der virtuellen Realität hineingezogen [11] und dort so lange industriell verkrüppelt werden, bis sie „fit“ sind. Hier erscheint Spencers „Survival of the fittest“ in Form einer Umkehrung und das Smartphone als Prokrustesbett. [12]

 

Es lohnt sich also im doppelten Sinn, über den Satz „wir sind alle behindert“ eingehend nachzudenken: einerseits auf der Ebene der Frage, ob Behinderte mit ihren Erkrankungen künftig tatsächlich emanzipiert leben dürfen sollen, andererseits auf der Ebene, ob sich nun die Gesamtheit der Bevölkerung wirklich den verstümmelnden Zwängen umfassender digitaler Prothesen ausliefern lassen will.

Fußnoten:

  1. ^ http://www.zeit.de/digital/internet/2011-09/wheelmap-raul-krauthausen/ (zuletzt eingesehen 24. 2. 2018).
  2. ^ Spencer, Herbert: The Principles of Biology. London: Williams and Norgate, 1864. § 164, S. 444.
  3. ^ Zum Notstand der Altenpflege in Deutschland vgl. Ullrich Fichtners Recherche mit dem Titel „Am Ende aller Kräfte“ im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 27. Jänner 2018, S. 42ff. Der deutsche Sozialpädagoge Claus Fussek spricht darin von „,einer der größten Humankatastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg‘“ und einer „fortgesetzten, ,tausendfachen Menschenrechtsverletzung‘“ (S. 46).
  4. ^ Eine Performance mit dem Titel Every Body Electric der österreichischen Choreografin Doris Uhlich, uraufgeführt am 26. Jänner 2018 im Tanzquartier Wien, lieferte ein ausgezeichnetes Beispiel für die Ambivalenz der Darstellung einer solchen Spaltung: Auf der Bühne bewegten sich ausschließlich Performerınnen mit körperlichen Behinderungen, das Publikum hingegen setzte sich beinahe zur Gänze aus „Nichtbehinderten“ zusammen. So hatten die einen, was im sozialen Alltag selten ist, die volle Aufmerksamkeit der anderen. Der Verlauf des Stücks machte deutlich, dass es der Choreografin primär um die sinnliche Präsenz der auftrittserfahrenen Performerınnen Erwin Aljukic, Yanel Barbeito, Adil Embaby, Sandra Mader, Karin Ofenbeck, Thomas Richter, Vera Rosner, Danijel Sesar und Katharina Zabransky ging. Auf ihrer Website schreibt Uhlich, dass unter dem Vorzeichen ihres „Konzepts der ,Energetic Icons‘ [...] individuelle und gemeinschaftliche ,Energietanzformen‘ entstehen. Jeder Körper hat spezifische Möglichkeiten, seine Dynamik und fleischliche Freude zu artikulieren. Die Bewegungen selbst ermöglichen dem Körper sich aufzuladen, sie werden zu einer Art körpereigenem Treibstoff.“ (zuletzt eingesehen am 24. 2. 2018)
  5. ^ Das englische Adjektiv „fit“ bedeutet „passend“ und „geeignet“, das Verb „anpassen“. Die Sprache behält recht: Fitnesstudios stellen ernüchternderweise „Anpassungswerkstätten“ für solche Körper dar, die nicht in die propagierten Schemata passen. Der stets vorgeschobene Gesundheitsaspekt rangiert hier ideologisch weit hinter dieser Normierung.
  6. ^ Industrielle Revolutionen sind selbst nicht gewalttätig, ihre politischen Begleitumstände oder Folgen sehr wohl – vor allem, wenn sie gesellschaftiche, insbesondere wirtschaftliche Krisen auslösen. Vgl. u.a. Heinrich A. Winkler: „Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979.
  7. ^ Gross (2003) oder Scarry (1985) meinten zwar das Gegenteil, ignorierten aber den ernüchternden ökonomischen Kontext, in dem sich Ersatz und Zusatz erst in größerem, für eine Allgemeinheit relevanten Maßstab und damit politisch entfalten konnten.
  8. ^ Vgl. das hellsichtige Buch von Thomas L. McPhail: Electronic Colonialism. The Future of International Broadcasting and Communication. Beverly Hills; London: Sage Publications 1981.
  9. ^ Die als „arisch“ klassifizierten Vertreter der NS-„Kulturwissenschaft“ profitierten, wie heute detailliert nachgewiesen ist, in höchstem Maß von der Vernichtung der jüdischen Intelligenz.
  10. ^ Dazu noch einmal ein Bezug zu Doris Uhlichs Every Body Electric. Der Titel verweist sowohl auf die popkulturelle Vergemeinschaftungsfunktion der elektronischen Musik, die Boris Kopeinig einspielte, als auch auf ein möglicherweise elektrisierendes Moment der „Energetic Icons“-Methode. Da die Aktionen der Performerınnen sich auf das „energetische“ Vorführen dessen beschränken mussten, was sie teils mit, teils ohne ihre Prothesen auf der Bühne körperlich tun können. Dadurch fiel die Dimension all dessen, was diese Persönlichkeiten über ihre Behinderung hinaus in ihrem Leben ausmacht, weg. Erwin Aljukic beispielsweise, der wie Krauthausen an der Glasknochenkrankheit leidet, ist Schauspieler. Oder das Paar Katharina Zabransky und Thomas Richter. Beide sind bei World Vision tätig und setzen sich aktiv für behindertengerechte Indrastrukturen ein. Zabransky arbeitet als stellvertretende Chefredakteurin fürs Radio, Richter war als Wirtschaftsinformatiker tätig. In frühen Arbeiten wie und (2007), Spitze (2008), Johannen (2009) bis hin zu Come Back (2012) beschäftigte sich Doris Uhlich noch mit den Hintergründen der von ihr eingeladenen Persönlichkeiten und ließ – bis etwa 2010 zusammen mit ihrer Dramaturgin Andrea Salzmann – das daraus gewonnene Material in ihre Stücke einfließen. Dadurch hatten diese Stücke neben ihrer besonderen Sinnlichkeit auch inhaltliche Tiefe. Jetzt kullern einige der Körper mit Behinderungen sozusagen „more than naked“ (wie ein Uhlich-Stück von 2013 heißt) auf dem Boden umher und zeigen ihre Prothesen vor: Krücken und einfache bis ganz spezielle, hochtechnisierte Rollstühle. So entsteht zwar ein dramaturgisches Muster aus berühren sollenden Momenten, auf das allerdings ein sehr dunkler Schatten fällt: Da Uhlich ihr Stück nur als sinnliche Fläche präsentiert, werden die Darstellerınnen auf ihre Äußerlichkeiten zurückgespiegelt und darin fixiert. Die Selbstbeschränkung der Künstlerin auf bloße Affirmation der Erscheinung reduziert den Diskurs um die Emanzipation körperbehinderter Menschen auf ein sentimentales Setting, das hervorragend in die Logik neoliberaler Servicekunst passt.
  11. ^ Vgl. dazu u.a. die Titelgeschichte „Nehmt den Kindern die Handys weg!“ (S. 1) der Wiener Wochenzeitung Falter Nr. 7/2018 v. 14. Februar 2018, S. 32ff: Barbara Thóth: „Rettet die Kindheit!“
  12. ^ Der Riese Prokrustes aus der griechischen Mythologie bot Reisenden ein Bett an oder zwang sie, sich auf ein Bett zu legen. Wenn sie zu groß dafür waren, hackte er ihnen die Füße beziehungsweise überstehende Gliedmaßen ab; waren sie zu klein, hämmerte und streckte er ihre Glieder auf einem Amboss auseinander.

 

(24. 2. 2018)